Vom Herzchirurgen zum Fernfahrer. Markus Maeder
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СКАЧАТЬ Hochsitzen schwelgen wir in der Stimme aus dem Radio, schauen durch den Mückenfriedhof auf der Frontscheibe hinab aufs automobilistische Niedrigwild um uns herum und fressen Asphalt, um bei Bellinzona in die sich verengende Ritze des Misox Richtung San Bernardino einzurollen.

       So now I gotta find that road That’s leading home to San Bernardino

      Ob ich das auf der Blues Harp hinkriegte? Ich lege mir die Töne zurecht für meine Hohner in G. Nicht dass ich sie nach den Regeln der Kunst so zu quälen verstehe, dass die Herzen der Hörer zu schluchzen beginnen. Eher quäle ich damit meine eigenen Ohren – und treibe es heimlich. Wildwestmelodien sind nicht allzu schwierig. Blood in the Saddle zum Beispiel. Oder Spiel mir das Lied vom Tod. Diesen ersten Heulton in den Keller ziehen und wieder aufjaulen zu lassen, hatte ich in meinen Rucksackreisejahren ein paar Hundert Telefonstangen weit geübt. Bis die Drähte zu weinen begannen. Zu schade, habe ich dieses kleine Ding jetzt nicht dabei. Home to San Bernardino. Gerade, als der Refrain zum letzten Mal kommt, ruft Walo an. Er hat kalte Füße bekommen: »Du, Markus, ich glaube, ich habe Scheiße gebaut. Mein Tank ist doch plombiert. Wenn ich da erwischt werde, wirds teuer.«

      »Nein, nein, lieber Walo, hast Glück«, sagt Markus nach kurzer Überlegung und freut sich für ihn: »Es ist ja keine Zollplombe. Sie ist von der Firma. Es ist alles okay.«

      Kurz darauf, am Ende der Talsohle, hält uns ein Security-Mann an: »Wo haben Sie geladen?«

      Beide: »In Lugano.«

      Er sagt okay und winkt uns durch. Hat der Mann nicht einen traurigen Job? Muss sich immer wieder nach Noten belügen lassen. Eine Reihe roter Plastikzylinder auf dem Asphalt weist uns nach links auf die Durchfahrstrecke. Auf der rechten Spur steht eine Kolonne von mindestens drei Dutzend Sattelschleppern. Darunter die fünf ungarischen von Tatratrans. Und tschüss. Home to San Bernardino.

      Fünfundzwanzig Tonnen Sonnenblumenöl über die Alpen zu ziehen, ist auch für vierhundertsechzig Pferde Schwerarbeit. Ich stelle mir Rudolf Kollers Gotthardpost vor und wie breit seine Leinwand sein müsste, damit man vierhundertsechzig Pferde anschirren könnte. Lostallo, Cabbiolo, Soazza … In der ununterbrochenen Steigung kriechen und riechen wir an den Dörfern vorbei, während sich die Kühe an den Bäumen den Nacken kratzen. Ich bin schon öfter über den San Bernardino gefahren, aber noch nie mit so viel Zeit, um den Blick schweifen zu lassen. Von so hoch oben. Keine Leitplanke versperrt die Sicht in die Ferne, hinauf in die Firne. »Mit der Viper ist das anders«, sagt Markus. Sein geliebter Sportwagen. »Der Blick auf die Straße ist beschränkt, du spielst dauernd mit dem Gas und verdrehst dir Hals und Augen um den nächsten Fels.«

      Das Schweizer Radio, das Markus den Hirtensender nennt, gratuliert Frau Bertha Abächerli, die eben im Alters- und Pflegeheim Sonnenruh in Amsoldingen ihren Fünfundneunzigsten feiern darf und heute Nachmittag ein Bsüechli ihrer vier Kinder, elf Enkel und sechsundzwanzig Urenkel erwartet. Nach einer Reihe Sechsundneunzig- bis Neunundneunzigjähriger folgen zwei diamantene Hochzeiten und eine eiserne. Dann erklingt Im schönsten Wiesengrunde, passend zum Blick hinunter auf die Moesa, die zu unserer Rechten durch den saftig-grünen Talboden Richtung Adria perlt. Weiter oben führt uns eine Barriere weg von der Autobahn auf die alte Passstraße. Auf der schmalen, gewundenen Strecke streifen uns die Lärchen und die Arven am Rand wie eine Liebkosung aus der Hand der Natur, eine Geste des Verzeihens für den Lärm und die Abgase, mit denen wir sie belästigen. In den Haarnadelkurven muss ich bei heruntergedrehtem Fenster schauen, ob kein Niedrigwild im toten Winkel rechts nach vorne huscht, aber meistens sehe ich nur den keuchenden Walo, an dem ebenfalls kaum einer vorbeikommt. Er hat einen etwas längeren Auflieger als wir; er schafft die engsten Radien nur, wenn er bis auf die Grasnarbe ausholt.

      Die fünfundzwanzig Tonnen Sonnenblumenöl haben ihren Preis. Wir fahren im Gang vier/hoch, das heißt im neunten von sechzehn, nicht ganz mit Vollgas, um die vierhundertsechzig Pferde zu schonen. Durstig genug sind sie ohnehin. Die Anzeige gibt einen Durchschnittsverbrauch von 86,4 Liter Diesel auf hundert Kilometer an. Seit heute früh haben wir einundsiebzig Liter verbraten – und sind noch nicht ganz oben. Allmählich begreife ich, wie viel Walo die freie Gesetzesinterpretation und das S einbringen. Wer im Konvoi raufmuss, wie unsere fünf Ungarn, lernt leiden, besonders, wenn er etwa einen Holländer vor sich hat, der sich, ausreichend für sein plattes Land, mit dreihundertachtzig Pferden begnügt. Er bremst in jeder Kurve die Stärkeren aus, man muss schalten, wieder beschleunigen, und wenn es genügend steil ist, kommt man gar nicht mehr weg.

      Markus hängt in Gedanken immer noch dem Tropfenzählsystem im Talboden nach: »Noch schlimmer ists in Biasca, Gotthard-Südrampe. Da stehen oft über hundert und warten drauf, sich um die rot-weißen Plastikzylinder eines Parkplatzes zu schlängeln, oft über Stunden. Alle paar Sekunden wirds für ein Fahrzeug grün. Nur für eins. Auch wenn die Strecke frei und kaum befahren ist. Reine Schikane. Das Gemeinste daran ist für uns, dass die Stunden auf den Abstellplätzen als Fahrzeit gelten, obwohl man nicht wirklich fährt. Kaum ist man dann wieder auf der Strecke, bremst einen die Scheibe mit ihren Ruhezeitpflichten aus.«

      Aber jetzt, da der Weg weit und breit und frei von Holländern ist und sich in der Ferne gerade eine farbenfroh segmentierte Brummerschlange vom Tunnel her uns entgegenwindet, erfasst uns ein Glücksgefühl, das mich an meine ersten Autoerfahrungen in den Fünfzigerjahren erinnert, als wir unterwegs zur Gotthard-Passhöhe im VW-Käfer auf den Rücksitzen standen, den Kopf durchs Schiebedach streckten und die alpenfrische Zugluft genossen. Freedom now. Mein Vater zelebrierte seine Allmachtsgefühle mit einem fast kultischen Wechsel der Gänge an der Stockschaltung, rauf und runter. Er konnte es kaum fassen, dass wir diese oder jene Steigung mir nichts, dir nichts im dritten schafften und dass wir einfach so, luftgekühlt raufruckelten über das Kopfsteinpflaster, während stolze Simcas, Panhards, Borgwards und Chevrolets zischend und dampfend an einem Bach standen und Wasser über den Kühler geschüttet bekamen, um für die letzten Kehren zum Hospiz Atem zu holen. Und jetzt. Im neunten Gang bei nicht einmal Vollgas. Da mögen Neider noch so behaupten, ein Stern gehöre an den Himmel und nicht auf die Straße. Doch für uns: Ist es nicht eine Gnade, seinem Zeichen zu folgen?

      Oben auf dem großen Parkplatz vor der Tunneleinfahrt vertreten wir uns die Füße zur Feier des Höhepunkts der Woche, tausendsechshundertacht Meter über Meer, dem Himmel um über tausend Meter näher als heute früh. Für diese Augenblicke lohnt es sich, Tage und Wochen zu fahren, schwärmt Markus und schaut in die Runde wie Hannibal, der eben seine Elefanten über die Alpen führt. »Brav, brav«, sagt er und klopft mit der flachen Hand auf die warme Kühlerhaube. Ein Pferd oder ein Elefant hätte jetzt ein Stück Zucker bekommen.

      Kaum haben wir uns umgeschaut, springt auch Walo vom Bock, ganz aufgekratzt vom Erlebnis. »Das war was«, sprudelt es aus ihm heraus: »Schschsch… Schschsch.« Dazu schwingt er die Arme in weiträumigen Kurven: »Hast du gesehen, wie der Gummi fetzte, und hast du gerochen, wie er auf dem Asphalt verbrannte. Rauchwölklein und schwarze Spuren in jeder Kurve, wie am Grand Prix von Monaco.«

      Markus meint, das habe mehr Reifen gekostet als Amsterdam retour. Ich hätte gern ein paar Fotos von den beiden Helden und ihren Gefährten gemacht, aber um sie als Pärchen vor dem Panorama des Piz Pian Grand oder des Piz Tambo in Szene zu setzen, hätten wir umparken müssen. Überdies pfeift ein bissiger Wind. Fast noch lieber hätte ich einen heißen Kaffee gehabt. Aber es ist wie auf einer Bergtour. Kaum hat man mit letzter Kraft die Spitze erreicht, zieht einen die Schwerkraft wieder nach unten, dem Rhein entlang bis zur Mündung in den seichten, schmutzigen niederländischen Niederungen. Das S brauchen die beiden jetzt nicht mehr und hängen es weg. Markus freut sich für Walo: »Vergiss bloß nicht, deinen Scheinlieferschein verschwinden zu lassen.«

      Nur noch bergab

      Soll noch jemand sagen, Sattelzüge seien Dreckschleudern. Bei der starken Neigung ist der Verbrauch exakt СКАЧАТЬ