Schlafes Bruder. Robert Schneider
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Название: Schlafes Bruder

Автор: Robert Schneider

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия: Reclam Taschenbuch

isbn: 9783159605357

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СКАЧАТЬ auf einem einzigen Flecken versammelt, nämlich auf der Bündt vor dem Kirchlein. Und an keinem Tag trank man so wüst in sich hinein als eben am Kirchweihtag, denn es gab Kirschgeist umsonst.

      Das Fest begann mit einem Amt im Freien. Den Altarbezirk umgab ein lieblich gesteckter Blumenteppich aus Margeriten- und Löwenzahnblüten. In den Teppich waren die beiden Worte AVE MARIA gewirkt worden, doch hatte sich nachts eine Kuh in der Kirchenbündt herumgetrieben und nun klebte auf dem Buchstaben »R« eine fette, saftige Klatter. Das betrübte den Kuraten, der ein marianisch geprägter Gottesmann war und als junger Mann sogar der Jünglingskongregation vom Herzen Mariä angehört hatte. Der Kurat versuchte, den Buchstaben wieder herzustellen. Das rochen die Ministranten und hoben bei der Wasserreichung ihre Nasen wenig demutsvoll von den Händen des Kuraten ab. In allem, es war ein ergreifendes Hochamt, und beim feierlichen Segen mit der Monstranz grölten die Bauern das Tedeum so ausgelassen, als sängen sie schon ein Trink- oder Wanderlied.

      Nach dem Amt begann das eigentliche Fest. Der Dorflehrer hatte mit den Kindern eine nimmer endende Ode auf das hochlöbliche Kaiserhaus einstudiert, dessen Verse von einem Mann stammten, der uns später noch des öftern wiederbegegnen wird. Er hieß Köhler Michel, wurde drum Köhler genannt, weil er die Kohlgrub im Weiler Altig befeuerte. Ein jedes Kind durfte zwei Strophen aus dem gewaltigen Poem rezitieren und das Gesagte in einer lebenden Szene darstellen. So auch Elias. Als die Reihe an den Elias kam, zogen etliche Personen bereits weingeistige Grimassen, was den Eklat noch um einiges steigerte. Der Junge trat vor das Publikum – ein Margeritenkränzlein im Haar – und fing an zu rezitieren. Als er mit warmer und hochtheatraler Baßstimme zu reden anhob, brach die Bauernschar in ein so entsetzliches Gelächter aus, daß es bis nach Götzberg hinabschallte. Elias brachte keine Silbe mehr vom Mund und starrte mit weit aufgerissenen Augen in die grelle Menge, die ihrerseits in das grelle Gelb seiner Pupillen starrte. Die Seffin bekam plötzlich Atemnot und brach vor aller Augen zusammen. Elias stand noch immer angewurzt, so lange, bis ihn der Dorflehrer endlich vom Holzgerüst herunterhob. Das chaotische Gebrüll – einige Vornehmtuer schrien TACKAPO! TACKAPO! – beruhigte sich erst, nachdem der hochberühmte Feuerschlucker Signor Foco das Gerüst bestiegen hatte. Während der feurigen Kaskaden des Signor Foco erinnerte man sich scherzend an den Schwefelsonntag des Jahres 1800, wies lachend auf die zweifach gefütterten, eisenverkeilten und zwölfangligen Flügeltüren, und der blinde Haintz Lamparter, der damals sein Augenlicht verloren, bedauerte laut die gute alte Zeit. Seit der Kurat Benzer nicht mehr am Leben, sei in Eschberg einfach nichts mehr los. Er tat einen Seufzer und tappte geduldig nach seinem Schoppen.

      In der Folgezeit ging es mit der Agathe Alder, der Seffin, erschreckend bergab. Sie wusch sich nicht mehr, kochte wochenlang nichts anderes als Grießmus, fraß und stopfte das stehengelassene Mus in sich hinein, wurde fettleibig und im Gesicht weiß wie Speck. Ihren Seff mochte sie nicht mehr beschlafen, und als sie »fett wie eine tragende Sau« geworden war – das Wort kam aus dem Mund ihrer einzigen Freundin –, mochte wiederum Seff sie nicht mehr lieben. Dabei war sie erst sechsundzwanzig Jahre alt. Im weiteren gab sie sich rätselhaften Kulten hin, wanderte des Nachts betend und singend durch Eschberg, setzte Kröten brennende Kerzen auf, suhlte sich nackt im Herbstlaub, ließ Mistkäfer über ihren Bauch krabbeln, verstopfte ihre Scham mit Lehm und schnitt sich zuletzt Fleisch aus ihrer linken Wange heraus. Das trug sie dann auf einem Kissen feierlich zum Kirchlein hinüber, breitete die Reliquie auf dem Altar des Hl. Eusebius, welcher angeblich auch ein Stück eigenen Fleisches vom Bresnerberg hinauf zum Viktorsberg getragen haben soll. Dies allerdings mit großer Virtuosität: Es war nämlich sein von Sonntagsschändern abgeschlagenes Haupt. Die Seffin verbrachte Stunde um Stunde kniend vor dem Altar, frug wieder und wieder die ewige Frage, weshalb ihr Gott so ein Kind hatte antun müssen. Wenn er ihr nur ein närrisches – damit meinte sie ein mongoloides – geschenkt hätte, es wäre im Dorf nicht weiter aufgefallen. Bedauerlicherweise ging Jahre später – sie hatte sich vom Kummer längst erholt und zu neuer Lebensfreude gefunden – ausgerechnet dieser fatale Wunsch bei ihrem dritten Kind in Erfüllung. So herzlos es klingen mag, aber das vorübergehende Irrsein der Mutter bedeutete für Elias den Beginn seines Lebens. Man ließ ihn, besser gesagt, er kam frei. Im Alderschen Haus war ohnehin alles einerlei geworden.

      Was aber tat Seff, dessen Zuneigung die Seinigen so not gehabt hätten? Denn es geschah, daß Elias sich bitter weinend an seine Brust warf, unfähig, ein Wort zu sprechen, einfach in der Hoffnung, der Vater möchte ihn halten, möchte ihn wortlos trösten.

      Seff schwieg.

      Und der Bruder Fritz? Wir geben ohne Hehl zu, daß er uns nicht interessiert. Fritz war zeitlebens ein so unbedeutender Mensch, daß wir ihn dem Leser am liebsten überhaupt unterschlagen möchten. Er war von jener Art des vollkommen nichtssagenden Zeitgenossen. Und tatsächlich: Aus dem Mund des Fritz Alder ist uns kein einziges Wort überliefert. Wäre eines überliefert, es interessierte uns nicht.

      Das Bild der frühen Jugend unseres Helden ist dunkel. Trotzdem gab es Momente heller Freude, die dem Leser vorzuenthalten unehrenhaft wäre. Eine letzte Episode will davon erzählen, und wir kehren zurück zum Frühjahr 1808, zum Fünfjährigen.

      Es war an einem verregneten Aprilvormittag. Etwa um die Mittagszeit stand Elias beim Fenster seines Gadens und konnte beobachten, daß ein fremdes Weib den Dorfweg heraufkeuchte. An den geschulterten Gurten und dem roten Lederkoffer erkannte er sogleich, daß es eine Hebamme war. Elias schob das Fenster auf, wollte sehen, wohin das Weib ginge. Sie war seinem Gesichtskreis schon entschwunden, darum bog er sich gefährlich weit aus dem Fenster und dann sah er, daß sie im Haus des Nulf Alder einkehrte. Etwa eine halbe Stunde später, er lag eben auf seinem Laubsack, schoß ihm ein schneidender Schmerz in den Kopf, und ins Herz ging ein Stich, und der Atem stand ihm plötzlich still.

      »Herrgott, Herrgott, was ist das?« wirbelte es durch sein kleines Hirn. »Was ist das?« Das Herz raste. »Was ist das, was ist das?« schrie er tiefkehlig, lachte und weinte gleichermaßen, sprang entsetzt auf, rüttelte an der versperrten Gadentür und hämmerte die Fäustchen gegen das braun verwelkte Wandtäfer. Und Elias rannte den Kopf in die Fensterscheibe und schrie hinab in den Wald, dahinter die Emmer floß. Schrie: »Hör nicht auf, Du! Hör nicht auf, Du!« Virgina Alder, die Nulfin, hatte ihrem Mann ein Mädchen geboren. Es war ein an Leib und Seele gesundes. Das Kind sollte auf den Namen Elsbeth getauft werden. Auf dem Seitenaltar der Muttergottes stand von diesem Tag an ein prächtiger Wiesenstrauß. Man kann sich nicht entsinnen, den Strauß jemals verwelkt gesehen zu haben.

      Und Elias schluchzte vor Freude. Er jubilierte. Jubilierte an Leib und Seele. Denn er vernahm ein wundersames Pochen, und vom Klang dieses Pochens wurde ihm zumute, als schaute er das Paradies.

      »Hör nicht auf, Du!« wimmerte das Kind hinab zum Waldrand, dahinter es jenen Klang zum ersten Mal gehört hatte.

      Es war Elsbeths Herzschlagen. Es war der Klang der Liebe.

      Die Stimme, die Tiere und die Orgel

      Zehn Jahre gelebt und zum Mann gereift. Sein Haar wurde schütter, in den Stirnecken fraß die beginnende Glatze. Weil er aussehen wollte wie alle Jungen seines Alters, versengte er sich die Bartstoppeln mit einer brennenden Kerze in dem Glauben, der Bart möchte nicht wieder sprießen. Das gewaltige Erlebnis im Bachbett der Emmer hatte sein Wachstum durcheinandergebracht. Er hatte das Aussehen und die Stimme eines Mannes, aber die Größe eines zehnjährigen Kindes. Er wollte ein Kind sein, wollte reden können wie ein Kind. Was die Merkwürdigkeit seines äußeren Erscheinens anlangte, so waren ihm Dinge zu Ohren gekommen, die der Verstand nicht begreifen konnte. Daß Elias unverdorben blieb in all dem dörflichen Schmutz von Mutmaßungen, Lügen und Verleumdungen ist allein dem Wesen seines Herzens zuzuschreiben. Es war gut. Es hatte die Kraft zu hoffen.

      Doch wird das Sonderliche, wenn es jeden Tag gesehen, zum Alltäglichen, und bald gewöhnte man sich an den Anblick dieses Mannkindes. In der Schulstube fiel es nicht auf, daß zwischen Wasserköpfen, Blatterngesichtern, СКАЧАТЬ