Название: Physiologie der Ehe
Автор: Оноре де Бальзак
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783955014742
isbn:
Einige Schwarzseher werden rufen, ein solcher Umschwung in unsern Sitten würde zu einer höchst gefährlichen allgemeinen Liederlichkeit führen; die Gesetze oder die Bräuche, die über den Gesetzen stehen, könnten schließlich doch nicht Skandal und Unmoralität decken; und wenn es unvermeidliche Übel gäbe, so dürfte doch zum wenigsten die Gesellschaft sie nicht ausdrücklich billigen.
Hierauf läßt sich leicht antworten. Vor allen Dingen: das vorgeschlagene System beabsichtigt, jene Übel zu verhüten, die man bis dahin als unvermeidlich angesehen hat; aber, wenn auch die Berechnungen unserer Statistik noch so ungenau sind, so haben sie doch auf alle Fälle eine ungeheure Wunde an unserm Gesellschaftskörper nachgewiesen. Unsere Moralisten würden also das größere Übel dem kleinern vorziehen? die Verletzung des Grundsatzes, auf dem unsere Gesellschaft beruht, einer noch gar nicht einmal so sicheren Zügellosigkeit der Mädchen? die Ausschweifung der Familienmütter, die die Quelle der Volkserziehung vergiftet und mindestens vier Menschen unglücklich macht, der Ausschweifung eines jungen Mädchens, das nur sich selber kompromittiert und höchstens noch ein Kind? Lieber gehe die Tugend von zehn Jungfrauen zugrunde, als diese Heiligkeit der Sitten, diese Ehrenkrone, die eine Familienmutter tragen sollte! In der Vorstellung eines jungen Mädchens, das von seinem Verführer verlassen ist, liegt etwas unbeschreiblich Erhabenes und Heiliges: wir denken an gebrochene Schwüre, an das verratene fromme Vertrauen, und wir sehen auf den Trümmern der Tugenden die weinende Unschuld, die an allem zweifelt, da sie an der Liebe eines Vaters zu seinem Kinde zweifeln muß. Die Unglückliche ist noch unschuldig; sie kann eine treue Gattin, eine zärtliche Mutter werden; und wenn die Vergangenheit mit schweren Wolken bezogen ist, so ist die Zukunft blau wie ein reiner Himmel. Finden wir diese zarten Farben auch auf den düstern Gemälden der unerlaubten Liebe? In dem einen Fall ist die Frau ein Opfer, im andern ist sie eine Verbrecherin. Wo ist die Hoffnung der Ehebrecherin? Wenn Gott ihr ihre Sünde vergibt, so kann doch das musterhafteste Leben hienieden nicht die lebenden Früchte ihres Fehltritts aus der Welt schaffen. Wenn Jakob I. Rizzios Sohn ist, so hat Marias Verbrechen so lange gedauert, wie ihr unglückseliges königliches Haus, und dann ist der Sturz der Stuarts Gerechtigkeit.
Aber – wenn wir aufrichtig sein wollen! – bringt denn die Selbstbestimmung der jungen Mädchen wirklich so viele Gefahren mit sich?
Es ist sehr leicht, eine junge Person zu beschuldigen, sie lasse sich durch den Wunsch verleiten, um jeden Preis ihres Mädchenstandes ledig zu werden; aber dies hat nur unter unsern gegenwärtigen Sittenverhältnissen Geltung. Heutzutage kennt eine junge Dame weder die Verführung noch deren Schlingen; sie hat als Stütze nur ihre Schwäche, und da sie nur die bequemen Grundsätze der feinen Welt vor Augen hat, so ist ihre trügerische Einbildungskraft, die von Begierden gelenkt wird, die auf allen Seiten Bestärkung finden, eine blinde und um so unzuverlässigere Führerin, da selten ein junges Mädchen einen andern Menschen in die geheimen Gedanken ihrer ersten Liebe einweiht.
Wenn sie frei wäre, würde eine vorurteilslose Erziehung sie dagegen wappnen, sich in den ersten besten zu verlieben. Sie wäre – wie wir alle – viel stärker gegenüber bekannten Gefahren als gegenüber solchen, deren Umfang sich ihren Blicken verbirgt. Wenn übrigens ein Mädchen seine eigene Herrin ist, wird sie darum weniger unter dem wachsamen Auge ihrer Mutter stehen? Will man denn jene Scham und Ängstlichkeit für nichts rechnen, denen die Natur nur darum eine solche Macht über die Seele einer Jungfrau gegeben hat, um sie vor dem Unglück zu bewahren, daß sie einem Mann angehören muß, den sie nicht liebt? Und endlich – wo ist das Mädchen, das so wenig zu rechnen verstände, um nicht zu ahnen, daß der unmoralischste Mann bei seiner Frau Grundsätze zu finden verlangt, so wie die Herrschaften verlangen, daß ihre Dienstboten vollkommen seien – und daß dann für sie ihre Tugend das gewinnreichste und ergiebigste Geschäft ist?
Um was handelt es sich hier denn überhaupt? Für wessen Anwalt hält man uns denn? Wir treten ein für höchstens fünf- oder sechshunderttausend Jungfernschaften, deren Waffen ihre natürlichen Abneigungen und der hohe Preis sind, zu dem sie sich selber einschätzen: sie wissen sich ebensogut zu verteidigen wie zu verkaufen. Die achtzehn Millionen menschlicher Wesen, die wir außerhalb unserer Betrachtungen gestellt haben, verheiraten sich fast alle nach dem System, das wir in unsern Sitten zur Geltung bringen möchten. Und in den Mittelklassen, durch die unsere armen Zweihänder von den an der Spitze der Nation marschierenden Bevorrechtigten geschieden sind – in diesen nimmt seit dem Frieden die Zahl der Findelkinder, die von diesen zwischen Armut und Wohlstand in der Mitte stehenden Klassen dem Unglück überliefert werden, beständig zu, wenn man Herrn Benoiston von Châteauneuf glauben darf – einem der mutvollsten Gelehrten, die sich den trockenen und doch so nutzbringenden Nachforschungen der Statistik gewidmet haben. Für welch eine tiefe Wunde bringen wir also das Heilmittel? Man denke doch nur an die große Zahl der Bastarde, die uns die Statistik nachweist, und an das viele Unglück, das nach unsern Berechnungen in der hohen Gesellschaft vorkommen dürfte! Aber es ist schwierig, hier auf alle Vorteile aufmerksam zu machen, die sich aus der Emanzipation der jungen Mädchen ergeben würden. Wenn wir später die Begleitumstände der Ehe, wie unsere Sitten sie herausgebildet haben, näher betrachten, dann werden urteilsfähige Geister den ganzen Wert des Systems freier Erziehung ermessen können, das wir im Namen der Vernunft und der Natur für die jungen Mädchen verlangen. Unser französisches Vorurteil hinsichtlich der Jungfräulichkeit der Neuvermählten ist das dümmste von allen, die wir haben. Die Orientalen nehmen ihre Frauen, ohne sich um die Vergangenheit zu beunruhigen, und sperren sie ein, um der Zukunft um so sicherer zu sein; die Franzosen geben ihre Töchter in eine Art von Serails, die von Müttern, von Vorurteilen, von religiösen Ideen bewacht werden, und geben ihren Frauen die vollständigste Freiheit – beunruhigen sich also viel mehr um die Vergangenheit als um die Zukunft. Es würde sich also nur darum handeln, in unsern Sitten künftighin eine umgekehrte Reihenfolge zu beobachten. Vielleicht würden wir dadurch dahin gelangen, der ehelichen Treue den ganzen Duft und Reiz zu verleihen, den die Frauen jetzt an der Untreue finden.
Aber diese Erörterung würde uns zu weit von unserm Gegenstand entfernen, wenn wir dabei in allen Einzelheiten die ungeheure sittliche Besserung untersuchen müßten, die ohne Zweifel im Frankreich des Zwanzigsten Jahrhunderts notwendig werden wird – denn die Reformen gesellschaftlicher Sitten vollziehen sich ja so langsam! Muß nicht zur Durchsetzung der geringsten Veränderung der kühnste Gedanke des vergangenen Jahrhunderts der alltäglichste Gedanke des gegenwärtigen Jahrhunderts geworden sein? Wir haben denn auch gewissermaßen nur aus Koketterie diese Frage gestreift, teils um zu zeigen, daß sie unserer Aufmerksamkeit nicht entgangen war, teils um unsern Enkeln noch ein weiteres Werk zu vermachen, und zwar, wohlgezählt, das dritte: das erste betrifft die Kurtisanen, das zweite ist die Physiologie des Liebesgenusses, und
»wenn wir beim zehnten sind,
dann schlagen wir ein Kreuz.«
In dem gegenwärtigen Zustand unserer Sitten und unserer unvollkommenen Zivilisation gibt es ein Problem, das für den Augenblick sich nicht lösen läßt, das aber jede Erörterung über die Kunst, sich eine Frau zu wählen, überflüssig macht. Wir überliefern es, wie alle andern, dem Nachdenken der Philosophen.
Problem:
Man hat noch nicht feststellen können, was die Frau mehr zur Untreue treiben würde: die Unmöglichkeit, sich eine Abwechslung zu gestatten, oder die Freiheit, nach ihrem Belieben zu handeln.
Wir beschäftigen uns ja in diesem Werk mit den Aussichten eines Mannes in dem Augenblick, wo er sich vermählt hat. Wenn er nun einer Frau begegnet wäre, die mit einem vollblütigen Temperament, mit einer lebhaften Einbildungskraft, mit einer nervösen Anlage oder mit einem gleichgültigen Charakter begabt wäre, so würde seine Situation nur um so bedenklicher sein.
In noch größerer Gefahr würde ein Mann sich befinden, wenn seine Frau nur Wasser tränke – Näheres darüber in der Betrachtung ›Hygiene der Ehe‹ –; wenn sie aber gar Begabung für den Gesang hätte oder besonders zu Erkältungen СКАЧАТЬ