Unwillig schüttelte die Assistentin den dunklen Pagenkopf.
»Mir hat es leid getan, dass Sie Zeuge dieser unsäglichen Szene geworden sind. Eigentlich ist es nicht mein Stil, meine Privatangelegenheiten in der Öffentlichkeit auszutragen.«
»Das glaube ich Ihnen aufs Wort«, versicherte Daniel ernst. »Wenn Sie mal darüber reden wollen … schließlich möchte ich, dass auch meine Mitarbeiter die Ambulanz mit einem glücklichen Gesicht verlassen.«
Valerie lachte. Der empathische Arzt gefiel ihr viel besser als ihr Chef, der sich schon am ersten Tag der Reise über die Patienten und ihre Wehwehchen lustig gemacht hatte. Einen Moment lang betrachtete sie Dr. Norden sinnend.
»Jakob und ich waren einmal ein Paar«, beschloss sie dann, ihm die Kurzversion des Dramas zu erzählen. Sie legte die Kugelschreiber in die Schreibtischschublade und schob sie zu. »Wir waren vier Jahre zusammen und wollten heiraten. Es war wie in einem schlechten Film. Die Einladungen waren verschickt, das Restaurant gebucht, das Brautkleid gekauft.« Valerie schaltete den Computer aus, ehe sie Dr. Norden wieder ansah. »Vom Junggesellenabschied ist er nicht zurückgekommen. Eine lapidare Nachricht war alles, was ich von ihm bekommen habe.« Obwohl sie eine Grimasse schnitt, war ihr der Schmerz immer noch deutlich anzusehen.
»Klingt, als hätte er plötzlich kalte Füße bekommen.« Unwillkürlich musste Daniel an seine Patientin Rebecca Salomon denken. Nach einer Ewigkeit war sie erst vor ein paar Tagen überraschend wieder in der Praxis aufgetaucht. Sein Sohn Danny, der die Praxis während seiner Abwesenheit allein führte, hatte ihn deswegen bereits mehr als einmal angerufen. »Ich hatte einmal eine Patientin, der ist es ähnlich ergangen wie Jakob«, ließ er seine Assistentin an seinen Gedanken teilhaben. »Ihr Partner wollte heiraten, ein Haus kaufen, Kinder bekommen. Das ganze Programm. Damals ist sie von heute auf morgen verschwunden. Erst vor ein paar Tagen habe ich erfahren, dass sie Fersengeld gegeben hat und diesen Schritt heute offenbar bitter bereut.«
Valerie hatte aufmerksam zugehört. Ihr Lächeln war schmal, als sie zur Garderobe ging, um ihren Kittel gegen eine dünne Jacke zu tauschen.
»Na, dann ist Jakob wenigstens in bester Gesellschaft.«
»Es ist also kein Zufall, dass er hier aufgetaucht ist«, erkundigte sich Daniel.
Valerie drehte sich zu ihm um.
»Kurz nachdem die Hochzeit abgesagt und ich aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen war, stand er wieder auf der Matte. Seither versucht er mich umzustimmen.«
»Diese Irrtümer scheint es öfter zu geben, als man gemeinhin annimmt.«
Seite an Seite gingen sie zum Ausgang des Hospitals. Ganz Gentleman hielt Daniel ihr die Tür auf.
»Danke. Im Übrigen bin ich ganz Ihrer Meinung. Es gibt diese Irrtümer wirklich. Das zwischen Jakob und mir war auch so einer«, machte Valerie ihren verletzten Gefühlen Luft. »Ich hoffe, dass er das irgendwann mal begreift und mich in Ruhe lässt. Noch so eine Szene vor allen Leuten verkrafte ich nicht.« Assistentin und Arzt standen auf dem Flur und warteten auf den Aufzug, als Valerie eine Idee kam. »Könnten Sie mir vielleicht einen Gefallen tun und sich bei ihm beschweren? Als mein Chef, meine ich.« Sie musterte ihn hoffnungsvoll.
Daniel zögerte. Der Aufzug kam und brachte ihm einen Aufschub. Allerdings einen kurzen.
»Ich weiß nicht recht«, erwiderte er und drückte die Knöpfe für die Stockwerke.
Valerie spürte, dass er leicht schwankte, und ließ nicht locker.
»Bitte!« Ihre Stimme war so flehend, dass Daniel schließlich nachgab.
»Ich werde es versuchen. Aber versprechen kann ich nichts«, warnte er noch, bevor sich Valerie von ihm verabschiedete und den Aufzug auf Deck acht mit einem neckischen Winken verließ.
*
Felicitas Norden war noch im Bad, als ihr Handy wieder klingelte. Und das nun schon zum dritten Mal. Was konnte nur so wichtig sein, dass sie noch nicht einmal in Ruhe fertig duschen konnte? Gleichzeitig hörte sie die Kabinentür.
»Dan, bist du das?«, rief sie aus dem Bad.
»Ich bin ein Räuber und gekommen, um eine schöne Jungfrau zu entführen«, hallte die gut gelaunte Stimme ihres Mannes durch die Suite.
Fee lachte, während sie sich das Haar einschäumte.
»Tut mir leid, lieber Räuber, da kommst du ein paar Jahre zu spät. Aber vielleicht kannst du stattdessen mal ans Telefon gehen.«
»Dein Wunsch ist mir Befehl«, erwiderte Daniel und griff nach dem Apparat auf dem Schreibtisch. Felix’ Konterfei leuchtete auf dem Display auf. »Hey, Captain Cook, zurück vom Landgang?« Nichts Böses ahnend bückte er sich, um die Minibar nach einem erfrischenden Getränk zu durchsuchen.
»Ach, Dad, du bist es! Ich hab schon ein paar Mal versucht, euch zu erreichen. Aber offenbar will keiner mit mir reden.«
»Was glaubst du, was meine Patienten sagen, wenn ich zwischen Untersuchung und Verbandauflegen ein paar Telefonate einschiebe?«, erinnerte Daniel seinen Sohn an seine Verpflichtungen.
»Selbstgewähltes Schicksal«, urteilte Felix unbarmherzig.
»Wie bin ich nur auf die absurde Idee gekommen, von dir ein bisschen Mitgefühl zu erhoffen?«, scherzte sein Vater.
Er klemmte den Apparat zwischen Schulter und Ohr und öffnete die kleine Flasche Cola.
»Zur Abwechslung brauche ich jetzt mal dein Mitgefühl«, erwiderte Felix. »Lilli und ich haben nämlich in kleines Problem.« Ehe Daniel nachfragen konnte, klingelte das Bordtelefon.
Glücklicherweise trat Fee in diesem Moment aus dem Bad und befreite ihren Mann aus dem Gewissenskonflikt. Sie hatte sich ein Handtuch um den Körper gewickelt und ein weiteres um das nasse Haar geschlungen. Mit graziösen Schritten ging sie hinüber zum Schreibtisch und nahm den Hörer ab. Ihr Anblick war atemberaubend. Doch darauf konnte Daniel in diesem Moment keine Rücksicht nehmen. Gebannt verfolgte er das Telefonat, das sie führte.
»Wie? Unser Sohn ist von dem Landgang noch nicht wieder an Bord zurückgekehrt?«, wiederholte Felicitas das, was ihr der Chef der Gästebetreuung gesagt hatte. Dabei sah sie ihren Mann mit großen Augen an.
Auch Felix hatte ihre Worte gehört.
»Das wollte ich dir gerade sagen, Dad«, meldete er sich wieder zu Wort. »Unser Bus hatte eine Reifenpanne. Wir schaffen es nicht in zehn Minuten zum Hafen. Ihr müsst ohne uns ablegen.«
Daniel schnappte nach Luft.
»Moment mal. Das geht doch nicht. Wir können doch …«
In die Worte seines Vaters hinein lachte Felix. Ganz offensichtlich hatte er den ersten Schrecken verdaut und fand Gefallen an dem kleinen Abenteuer.
»Ruhig Blut, Dad. Lilli und ich suchen uns ein Hotel in der Nähe des Flughafens. Morgen früh nehmen wir die erste Maschine nach Puerto Plata. Spätestens morgen Abend hast du deinen Lieblingssohn wieder«, scherzte er.
Diese Botschaft teilte Daniel seiner Frau mit, die sie wiederum an den Chef der Gästebetreuung weitergab. Nach ein paar СКАЧАТЬ