Gesammelte Erzählungen (Über 110 Titel in einem Band). Joachim Ringelnatz
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Читать онлайн книгу Gesammelte Erzählungen (Über 110 Titel in einem Band) - Joachim Ringelnatz страница 46

Название: Gesammelte Erzählungen (Über 110 Titel in einem Band)

Автор: Joachim Ringelnatz

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9788027203710

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СКАЧАТЬ Haha! Der Aktuar kniete auf dem Fußboden und amüsierte sich damit, seine linke Hand mittels eines Bindfadens an das Tischbein zu binden. Zweimal ums Handgelenk und zweimal ums Tischbein herum und dann nochmals so.

      Daneben, auf der Diele, lag ein aufgeschlagenes Aktenheft, und den scharfen Blicken des Beobachters entging nicht, daß es gröblich mit Tinte besudelt war.

      Schämte sich der grauhaarige Kerl denn gar nicht ob solcher Torheiten? Nein, er kicherte fortgesetzt vor sich hin – man hörte es nicht, aber man sah es. Er verknotete den Bindfaden über der Fesselung und ergriff mit der Rechten ein Radiermesser, um die über den Knoten hinausragenden Enden der Schnur pedantisch abzuschneiden und kicherte und redete dabei; vielleicht war der Aktuar betrunken. Um Himmels willen, was tat er denn jetzt! –

      Der Fürst sprang zurück, lief rasch aus dem Winkelhof hinaus und um die Ecke herum.

      Als er in die Truhe stürzte, war der Aktuar vornübergefallen, hing mit dem linken Arm am Tischfuß, und dieser Arm war über und über mit Blut beflossen.

      Der Archivar rollte in weit aufgerissenen Augen ein Paar gräßlich stierende Pupillen, und die bluttriefenden Finger seiner rechten Hand kratzten mit unbegreiflicher Anstrengung an einem roten Klecks in dem Aktenbuch, welches ihm zur Seite lag.

      „Den linken Bogen –“ stammelte er einmal und nochmals mit entsetzlicher, fremder, gleichsam weit entfernt klingender Stimme.

      Was Seine Durchlaucht der Fürst auch anstellte, er brachte nicht mehr aus dem Sterbenden heraus.

      Phantasie

       Inhaltsverzeichnis

      1

      „Aber sie ist doch ein achtjähriges Kind,“ wagte die Stadträtin vorzuhalten.

      Ihr Mann warf die heiße Zigarre auf das Sofa. „Alberne Entschuldigung,“ grollte er und rettete mit vulkanischer Ruhe den roten Plüsch so langsam als möglich. „Das ist genau so, als wenn du über Kopfschmerzen klagtest und ich würde dazu bemerken: Aber die Stachelbeeren sind noch nicht reif. Ein nichtsnutziges, erzfaules, kalbsdummes Geschöpf ist das Mädchen!“

      Onkel Fußball, welcher spreizbeinig daneben stand, beide Hände fidel in die Taschen vergraben, meckerte den Streitenden rücksichtslos ins Gesicht. Wie ein Metzgergeselle sieht er jetzt aus, dachte der Stadtrat von ihm und äußerte laut: „Vielleicht hast du die Güte, dein Amüsement über meine Sorgen ein wenig zu verbergen. Das wäre sonst genau so, als wenn ich mich feindselig in deine Angelegenheiten mischen und beispielsweise dich verhöhnen wollte, wenn dir auf dem Sportplatz ein Schienenbein zertrümmert wird. Daja,“ der Stadtrat sprach jetzt zur Lampe, äugelte aber zuweilen nach seiner Frau hinüber, „Daja wird leider unverantwortlich von uns verwöhnt und sie wird mich dafür in die Grube ärgern. Schlagen müßte man sie,“ der Stadtrat wandte sich mit unväterlichen Fäusten dem Fenster zu, wo Mademoiselle ekstatisch Beifall nickte, „schlagen müßte man sie, daß ihr die Knochen aus dem Halse hängen.“

      Als alle im Zimmer über diesen ungewöhnlichen Vergleich teils entrüstet, teils belustigt nachdachten, wurde Herr Scholz sanfter, fing an, seinen gutmütigen Bauch zu streicheln, und redete zu diesem fort: „Warum klagt Herr Andex denn niemals über Chile oder über Peter? Warum sind denn die fleißig und folgsam? Nicht wahr, Herr Andex, ist dem nicht so?“

      Der Hauslehrer, welcher insgeheim ein Gesuch betreffend Salärerhöhung plante, nahm sich zusammen, raffte seine überlangen Gehrockschöße hinterm Rücken, trat zwei Schritte vor und setzte mit gehobenem Ernst ein: „Ich wäre ja zufrieden, wenn Daja etwas wie guten Willen, Wollen, etwas Streben, etwas Vorsatz, Ansatz, Anlauf, etwas, etwas – zeigte. Aber nein, sie ignoriert meine Vorhaltungen, Vorstellungen; geistesabwesend und störrisch. Sie huldigt Spielereien und will sonst nichts beachten. Entweder zeichnet sie unter der Bank Schwäne in die Schulbücher,“ Mademoiselle nickt so gewaltig, daß unter dem rotblonden Haarsaum ihres Hinterkopfes ein grauer Haarsaum hervortrat, „oder sie lungert stundenlang heimlich mit dem Forstgehilfen im Walde herum, während ich mir die Augen nach ihr wund suche.“ Frau Scholz lächelte ironisch. „Oder sie schwänzt die Schulstunden, um Blumenhochzeit und ähnliche Kindereien im herzoglichen Park zu spielen.“

      „O, ik liebe der Kind so sehr,“ rief die Französin stürmisch, „aber sie ist eine zu garstige –“

      Frau Stadtrat erhob sich geräuschvoll: „Das Kind hat allerdings reiche Phantasie.“

      „Phantasie ist Quatsch!“ brüllte Herr Scholz. „Und ich will ihr den schon austreiben. Heute bekommt Daja kein Essen, und sie wird zwei Stunden in die Lampenkammer gesperrt. Das wäre ja sonst genau so, als wenn – –“

      „Jawohl Herr Stadtrat,“ unterbrach der Hauslehrer, „man muß – –“

      „Man muß ihr fragen,“ unterbrach Mademoiselle, „ob sik – –“

      „Am Ende wäre doch –,“ unterbrach die Stadträtin.

      „Wozu denn solche –,“ lachte Onkel dazwischen.

      Da alsdann gleichzeitig jedes der Anwesenden zu der Meinung kam, der einsichtsvollste, vornehm überlegene Teil zu sein, gingen die Zankenden plötzlich auseinander. Herr Stadtrat zog indessen noch Herrn Andex beiseite und empfahl ihm, strenger mit Daja zu verfahren. Danach bat die Stadträtin Herrn Andex beiseite und riet ihm, es einmal in Güte mit Daja zu probieren. Danach lud Onkel Fußball Herrn Andex zu einer Partie Billard ins Café Kürzel.

      2

      „Gu-Gu-Guten Tag, Leu-Leute. Oberkellner, bringen Sie mir eine Pa-Pastete, à la reine, und Schampus für mich! Für die übrigen Gäste hier Bier oder Kaffee, Schnaps, was wa sie haben wollen. Ich bin kein Filz, der seinen Wochenlohn in die Sumpfstrocke – Strumpfsocke bindet, wie Heine Klevers.“

      Da der Kellner jedoch nur ein frostiges Kopfschütteln mit ausweisenden Blicken servierte, ereiferte sich der also Bediente – anscheinend ein Kohlenarbeiter, der, nach seiner Färbung zu urteilen, direkt, oder noch glaubhafter, auf dem Umwege nach einer Schnapsdestille von der Arbeit kam – in einer weitschweifigen Rede, welche, wenn man sie für pure Wahrheit nahm, bewies, daß der Kohlenmensch Jahre zuvor einmal Historie studiert hatte, oder mindestens bei einem Historiker in Stellung gewesen war; ferner daß und wie drastisch er damals seinem intimen Freunde, dem Prinzen Ferdinand, die Meinung gesagt hatte und dergleichen Bewundernswertes mehr.

      Trotzdem ward der Vortragende, ein noch junger Mensch, dessen linkes Auge erblindet schien, mit Worten, Gesten und Püffen an die Außenluft genähert. Doch die hinter ihm ins Schloß fallende Tür vermochte nicht seine inzwischen an Kraft geschwollene Stimme zu unterdrücken, welche noch beteuerte: er ginge von selbst aus der verdammten Spielhölle, und er danke für Pastete, Lamettrie sei an Trüffelpastete gestorben usw. usw.

      Diese Szene war es, die den Onkel Fußball im Lachen schüttelte, als er mit Andex das Café verließ. Wenn sein Begleiter nur gezwungen beilächelte, so lag das daran, daß ihn der Anblick des Einäugigen entsetzt hatte. Herr Andex murmelte unterwegs schaudernd mehrmals vor sich hin: „Sie haben es ihm ausgeschaufelt.“ Auch war eine Goldplombe im Gebisse jenes Trunkenboldes aufgefallen, die den Hauslehrer an qualvolle Lehrjahre bei einem Zahntechniker erinnerte und an eine Erfindung, für die er damals viel Arbeit, Zeit und Hoffnung vergeudet hatte. Seine Idee war ein künstlicher Zahnschmelz gewesen, welcher viel Heil, Ruhm und Geld bringen sollte.

      3

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