Название: Gesammelte Weihnachtsmärchen für Kinder (Illustriert)
Автор: Walter Benjamin
Издательство: Bookwire
Жанр: Книги для детей: прочее
isbn: 9788075834935
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Aber was war das für eine Gestalt von einem jungen Mann, den dasselbe Feenheimchen ihrem Stuhl so nahe stellte, und der dort ganz einsam und allein stehenblieb? Warum weilte er noch immer so nahe bei ihr, den Arm auf den Kaminsims gestützt und wiederholte beständig: »Verheiratet! Verheiratet! Und nicht mit mir!«
O Dot! O schwache Dot! Solltest du deine Pflichten … Aber nein, für den Gedanken ist kein Raum in allen Träumen deines Mannes. Doch warum ist dieser Schatten auf seinen Herd gefallen?
Zweites Zirpen
Kaleb Plummer und seine blinde Tochter lebten ganz allein miteinander, wie die Märchenbücher sagen – und meinen Segen und auch hoffentlich den eurigen über die Märchenbücher, daß sie uns noch etwas zu sagen haben in dieser Alltagswelt! – Kaleb Plummer und seine blinde Tochter lebten ganz allein miteinander in einer zerknackten Nußschale von einem Häuschen, das eigentlich nichts Besseres war als ein Pickel auf der hervorragenden Backsteinnase von Gruff und Tackleton. Die Gebäude von Gruff und Tackleton nahmen die große Vorderseite der Straße ein; aber Kaleb Plummers Häuschen hätte man mit ein paar Hammerschlägen niederschlagen und die Stücke in einem Schubkarren fortschaffen können.
Wenn irgend jemand der Wohnung Kaleb Plummers nach einem solchen Gewaltstreich die Ehre angetan hätte, sie zu vermissen, so wäre es ohne Zweifel nur geschehen, um ihre Zerstörung als eine bedeutende Verbesserung zu preisen. Sie klebte an dem Gewese von Gruff und Tackleton wie eine Klette an einem Schiffskiel, oder wie eine Schnecke an einer Tür, oder wie ein kleines Häufchen Pilze an einem Baumstamm. Und doch war es der Keim, aus dem der hohe kräftige Stamm von Gruff und Tackleton aufgewachsen war; und unter seinem zerfallenen Dache hatte der vorletzte Gruff in ganz kleinem Maßstabe Spielzeug für eine Generation von seitdem alt gewordenen Knaben und Mädchen angefertigt, die damit gespielt, sie ausgenutzt, zerbrochen, und dann auf ihnen sich schlafen gelegt hatten.
Ich sagte, daß Kaleb und seine arme blinde Tochter hier lebten. Aber ich hätte sagen sollen, Kaleb lebte hier und seine arme blinde Tochter irgendwo in einem Zauberschlosse von Kalebs Schöpfung, wo man von Armut und Not nichts spürte und die Sorge nie Einlaß hielt. Kaleb war kein Zauberer, aber in der einzigen Zauberkunst, die uns noch übriggeblieben ist, in der Zauberkunst hingebender, unerschöpflicher Liebe, war die Natur seine Lehrerin gewesen, und aus ihren Lehren blühten all diese Wunder auf.
Das blinde Mädchen erfuhr nie, daß die Decke verblichen, die Wände schwarz und stellenweise vom Mörtel entblößt waren; daß große Risse sich gebildet hatten und mit jedem Tag sich erweiterten; daß die Balken vermoderten und sich senkten. Das blinde Mädchen erfuhr nie, daß auf den Wandborden nur die häßlichen Gestalten von Töpferwaren standen; daß Sorge und Mutlosigkeit im Hause waren; daß Kalebs spärliche Haare vor ihren erloschenen Augen grauer und immer grauer wurden. Das blinde Mädchen erfuhr nie, daß sie einen kalten, anspruchsvollen, gefühllosen Herrn hatte, kurz, daß Tackleton Tackleton war, sondern lebte in dem Glauben an einen gutmütigen Kerl, der gern seinen Spaß mit ihnen trieb, und der, während er der Schutzengel ihres Daseins war, es verschmähte, ein Wort der Dankbarkeit von ihnen zu hören.
Und das alles war Kalebs Werk, das Werk ihres schlichten Vaters! Aber auch er hatte ein Heimchen an seinem Herde; und als er einst, da das mutterlose blinde Kind noch sehr jung war, mit schwerem Herzen auf sein Zirpen lauschte, da hatte ihm dieser Schutzgeist den Gedanken eingeflößt, daß selbst ihr großes Unglück fast in einen Segen verwandelt und das Mädchen mit diesem traurigen Mittel glücklich gemacht werden könne. Denn das ganze Heimchengeschlecht besteht aus mächtigen Geistern, wenn auch die Menschen, die mit ihnen verkehren, es fast nie wissen (und dies ist häufig der Fall); und es gibt in der unsichtbaren Welt keine lieblicheren und wahreren Stimmen, denen man bedingungsloser vertrauen könnte, und die so sicher nur den liebevollsten Rat erteilen, als die Stimmen, deren sich die Schutzengel des häuslichen Herdes in ihrem Verkehr mit dem Menschengeschlecht bedienen.
Kaleb und seine Tochter waren zusammen bei der Arbeit in ihrer gewöhnlichen Arbeitsstube, die ihnen auch als Wohnstube diente. Und ein merkwürdiger Ort war es. Da standen Häuser, fertige und halbfertige, für Puppen jeden Ranges. Vorstadthäuser für Puppen von beschränkten Mitteln; Küchen und einzelne Zimmer für Puppen der niederen Klassen; großstädtische Paläste für Puppen aus vornehmen Kreisen. Einige dieser Wohnungen waren bereits möbliert, je nach den Verhältnissen und dem Geschmack von Puppen von beschränktem Einkommen; andere konnten in kürzester Frist auf das kostspieligste eingerichtet werden; man brauchte nur von den Gestellen Stühle, Tische, Sofas, Bettstellen, und was sonst zu einer fein möblierten Wohnung gehört, herunterzunehmen. Der hohe und niedere Adel und das große Publikum, für die diese Wohnungen bestimmt waren, lagen da und dort, die Augen starr nach der Decke gerichtet, in Körben herum; aber je nachdem die Verfertiger dieser Puppen ihnen die verschiedenen Stufen auf der gesellschaftlichen Leiter anwiesen und jeden auf seinen entsprechenden Platz stellten – was, wie die Erfahrung lehrt, im wirklichen Leben beklagenswert schwierig ist – waren sie weit geschickter gewesen, als die Natur, die oft so launisch und verderbt ist; denn statt sich mit so willkürlichen Unterscheidungen wie Atlas, Kattun und Lumpen zu begnügen, hatten sie auffällig persönliche Unterscheidungen, bei denen ein Irrtum ausgeschlossen war, hinzugefügt. So hatte die Puppendame von vornehmer Herkunft Wachsglieder von vollendetem Ebenmaß – ein Vorzug, wie er nur ihr und ihren Adelsgenossen gebührte. Der nächste Grad auf der gesellschaftlichen Leiter war von Leder, und wieder der nächste von grober Leinwand. Was das gemeine Volk betraf, so war das Material zu ihren Armen und Beinen aus Streichholzbüchsen genommen – und so stand es nun da, von Anbeginn in die ihm zukommende Sphäre gewiesen, ohne die Möglichkeit, je aus derselben herauszukommen.
Außer den Puppen enthielt Kalebs Zimmer noch verschiedene andre Proben seiner Kunstfertigkeit. Da waren Archen Noahs, in denen Vögel und Tiere ungewöhnlich eng untergebracht waren, das kann ich euch versichern; obwohl sie durch ein Loch im Dach hineingestopft waren, so konnten sie doch auf einen beliebig kleinen Raum zusammengeschüttelt und gerüttelt werden. Vermöge einer erfinderischen poetischen Freiheit hatten die meisten dieser Noahsarchen Klopfer an den Türen – wenig passende Anhängsel vielleicht, da sie an Morgenbesuche und Briefträger erinnerten; indes gaben sie in netter Weise dem Äußeren des Gebäudes die Schlußzierde. Da waren ganze Schocke melancholischer kleiner Karren, die, wenn die Räder sich drehten, eine höchst klägliche Musik machten. Viele kleine Geigen, Trommeln und andere Folterwerkzeuge, auch eine unzählige Masse von Kanonen, Schilden, Schwertern, Lanzen und Flinten. Da waren kleine Purzelmännchen in roten Hosen, die unaufhörlich an hohen aufgespannten roten Bändern hinaufkletterten und auf der anderen Seite kopfüber wieder herunterkamen; da waren auch unzählige alte Herren von hochachtbarem, um nicht zu sagen ehrwürdigem Äußeren, die sich wie toll um wagerechte Pflöcke herumschwangen, die einzig zu diesem Zwecke mitten in ihrer Haustüre angebracht waren. Da waren Tiere jeder Gattung, besonders Pferde jeder Rasse, von gefleckten Zylindern auf vier Pflöckchen, mit einem kleinen Streifchen als Mähne, bis zu Vollblutswiegenpferden von feurigstem Temperament. Es wäre schwer gewesen, die Dutzende und Aberdutzende seltsamer Figuren zu zählen, die allezeit bereit waren, bei dem Drehen eines Griffes alle möglichen Albernheiten zu begehen; auch würde es keine leichte Aufgabe gewesen sein, eine menschliche Torheit, Untugend oder Schwäche zu nennen, die in Kaleb Plummers Zimmer nicht ihren mehr oder weniger treuen Typus gefunden hätte. Und alles das durchaus nicht in übertriebener Form; denn es bedarf ja keiner sehr künstlichen Handhabe, um uns alle, Männer wie Frauen, zu nicht weniger seltsamen Streichen СКАЧАТЬ