Название: Rosa Luxemburg: Gesammelte Schriften über die russische Revolution
Автор: Rosa Luxemburg
Издательство: Bookwire
Жанр: Философия
isbn: 9788075833341
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II
Wir haben bis jetzt die Frage des Zentralismus vom Standpunkt der allgemeinen Grundlagen der Sozialdemokratie sowie zum Teil der heutigen Verhältnisse in Rußland betrachtet. Aber der Nachtwächtergeist des von Lenin und seinen Freunden befürworteten Ultrazentralismus ist bei ihm nicht etwa ein zufälliges Produkt von Irrtümern, sondern er steht im Zusammenhang mit einer bis ins kleinste Detail der Organisationsfragen durchgeführten Gegnerschaft zum – Opportunismus.
„Es handelt sich darum“, meint Lenin (S. 52), „vermittels der Paragraphen des Organisationsstatuts eine mehr oder minder scharfe Waffe gegen den Opportunismus zu schmieden. Je tiefer die Quellen des Opportunismus liegen, um so schärfer muß diese Waffe sein.“
Lenin erblickt auch in der absoluten Gewalt des Zentralkomitees und in der strengen statutarischen Umzäunung der Partei eben den wirksamen Damm gegen die opportunistische Strömung, als deren spezifische Merkmale er die angeborene Vorliebe des Akademikers für Autonomismus, für Desorganisation und seinen Abscheu vor strenger Parteidisziplin, vor jedem „Bürokratismus“ im Parteileben bezeichnet. Nur der sozialistische „Literat“, kraft der ihm angeborenen Zerfahrenheit und des Individualismus, kann sich nach Lenins Meinung gegen so unbeschränkte Machtbefugnisse des Zentralkomitees sträuben, ein echter Proletarier dagegen müsse sogar infolge seines revolutionären Klasseninstinktes ein gewisses Wonnegefühl bei all der Straffheit, Strammheit und Schneidigkeit seiner obersten Parteibehörde empfinden, er unterziehe sich all den derben Operationen der „Parteidisziplin“ mit freudig geschlossenen Augen. „Der Bürokratismus entgegen dem Demokratismus“, sagt Lenin, das ist eben das Organisationsprinzip der revolutionären Sozialdemokratie entgegen dem Organisationsprinzip der Opportunisten.“ (S. 151) Er beruft sich mit Nachdruck darauf, daß derselbe Gegensatz der zentralistischen und autonomistischen Auffassung in der Sozialdemokratie aller Länder bemerkbar wird, wo sich die revolutionäre und reformistische oder revisionistische Richtung entgegenstehen. Speziell exemplifiziert er mit den jüngsten Vorgängen in der deutschen Partei und mit der Diskussion, die sich um die Frage der Autonomie des Wahlkreises entsponnen hatte. Schon aus diesem Grunde dürfte eine Nachprüfung der Leninschen Parallelen nicht ohne Interesse und ohne Nutzen sein.
Vor allem muß bemerkt werden, daß in der starken Herausstreichung der angeborenen Fähigkeiten der Proletarier zur sozialdemokratischen Organisation und in der Verdächtigung der „akademischen“ Elemente der sozialdemokratischen Bewegung an sich noch nichts „Marxistisch-Revolutionäres“ liegt, vielmehr darin ebensoleicht die Verwandtschaft mit opportunistischen Ansichten nachgewiesen werden kann. Der Antagonismus zwischen dem rein proletarischen Element und der nichtproletarischen sozialistischen Intelligenz – das ist ja der gemeinsame ideologische Schild, unter dem sich der französische halbanarchistische Nurgewerkschaftler mit seinem alten Rufe: Méfiez-vous de politiciens!, das Mißtrauen des englischen Trade-Unionismus gegen die sozialistischen „Phantasten“ und endlich – wenn wir richtig orientiert sind – auch der reine „Ökonomismus“ der ehemaligen Petersburger Rabotschaja Mysl (Arbeitergedanke) mit ihrer Übertragung der trade-unionistischen Borniertbeit nach dem absolutistischen Rußland die Hand reichen.
Allerdings läßt sich in der bisherigen Praxis der westeuropäischen Sozialdemokratie ein unleugbarer Zusammenhang zwischen Opportunismus und akademischem Element sowie andererseits zwischen Opportunismus und Dezentralisationstendenzen in den Organisationsfragen bemerken. Löst man aber diese Erscheinungen, die auf einem konkreten historischen Boden entstanden sind, von diesem Zusammenhang los, um sie zu abstrakten Schablonen von allgemeiner und absoluter Gültigkeit zu stempeln, so ist ein solches Verfahren die größte Sünde wider den „Heiligen Geist“ des Marxismus, nämlich gegen seine historisch-dialektische Denkmethode.
Abstrakt genommen, läßt sich nur soviel feststellen, daß der „Akademiker“, als ein seiner Herkunft nach dem Proletariat fremdes, von der Bourgeoisie abstammendes Element, nicht im Einklang mit dem eigenen Klassenempfinden, sondern nur durch dessen Überwindung, auf dem Wege der Ideologie zum Sozialismus gelangen kann und deshalb eher zu opportunistischen Seitensprüngen prädisponiert ist als der aufgeklärte Proletarier, dem – wofern er den lebendigen Zusammenhang mit seinem sozialen Mutterboden, mit der proletarischen Masse, nicht verloren hat – sein unmittelbarer Klasseninstinkt einen sicheren revolutionären Halt gibt. In welcher konkreten Form jedoch diese Veranlagung des Akademikers zum Opportunismus erscheint, welche handgreiflichste Gestalt namentlich von Organisationstendenzen sie annimmt, das hängt jedesmal von dem konkreten sozialen Milieu der Gesellschaft ab, um die es sich handelt.
Die Erscheinungen im Leben der deutschen wie der französischen und der italienischen Sozialdemokratie, auf die sich Lenin beruft, sind aus einer ganz bestimmten sozialen Basis emporgewachsen, nämlich aus der des bürgerlichen Parlamentarismus. Wie dieser überhaupt der spezifische Nährboden der gegenwärtigen opportunistischen Strömung in der sozialistischen Bewegung Westeuropas ist, so sind auch die besonderen Tendenzen des Opportunismus zur Desorganisation aus ihm entsprossen.
Der Parlamentarismus unterstützt nicht nur all die bekannten Illusionen des jetzigen Opportunismus, wie wir sie in Frankreich, Italien und Deutschland kennengelernt haben: die Überschätzung der Reformarbeit, des Zusammenwirkens der Klassen und Parteien, der friedlichen Entwicklung usw., er bildet zugleich den Boden, auf dem sich diese Illusionen praktisch betätigen können, indem er die Akademiker auch in der Sozialdemokratie als Parlamentarier von der proletarischen Masse absondert, gewissermaßen über sie emporhebt. Endlich gestaltet derselbe Parlamentarismus mit dem Wachstum der Arbeiterbewegung diese letztere zum Sprungbrett politischen Emporkommens, weshalb er sie leicht zum Unterschlupf für ehrgeizige und schiffbrüchige bürgerliche Existenzen macht.
Aus all diesen Momenten ergibt sich auch die bestimmte Neigung des opportunistischen Akademikers der westeuropäischen Sozialdemokratie zur Desorganisation und zur Disziplinlosigkeit. Die zweite bestimmte Voraussetzung der gegenwärtigen opportunistischen Strömung ist nämlich das Vorhandensein einer bereits hohen Entwicklungsstufe der sozialdemokratischen Bewegung, also auch einer einflußreichen sozialdemokratischen Parteiorganisation. Die letztere erscheint nun als derjenige Schutzwall der revolutionären Klassenbewegung gegen bürgerlich-parlamentarische Tendenzen, den es zu zerbröckeln, auseinanderzutragen gilt, um den kompakten aktiven Kern des Proletariats wieder in der amorphen Wählermasse aufzulösen. So entstehen die historisch wohlbegründeten und bestimmten politischen Zwecken vortrefflich angepaßten „autonomistischen“ und dezentralistischen Tendenzen des modernen Opportunismus, die somit nicht aus der angeborenen Liederlichkeit und Waschlappigkeit des „Intellektuellen“, wie Lenin annimmt, sondern aus den Bedürfnissen des bürgerlichen Parlamentariers, nicht aus der Psychologie des Akademikers, sondern aus der Politik des Opportunisten zu erklären sind.
All diese Verhältnisse sehen aber in dem absolutistischen Rußland bedeutend anders aus, wo der Opportunismus in der Arbeiterbewegung überhaupt nicht ein Produkt des starken Wachstums der Sozialdemokratie, der Zersetzung der bürgerlichen Gesellschaft, wie im Westen, sondern, umgekehrt, ihrer politischen Zurückgebliebenheit ist.
Die russische Intelligenz, aus der sich der sozialistische Akademiker rekrutiert, hat begreiflicherweise einen viel unbestimmteren Klassencharakter, ist viel mehr deklassiert im genauen Sinne des Wortes als die westeuropäische Intelligenz. Daraus ergibt sich zwar – im Verein mit der Jugendlichkeit der proletarischen Bewegung in Rußland – im allgemeinen ein viel weiterer Spielraum für theoretische Haltlosigkeit und opportunistisches Herumvagieren, das sich bald in einer gänzlichen Negierung der politischen Seite der Arbeiterbewegung, bald in dem entgegengesetzten Glauben an den alleinseligmachenden Terror verläuft, um schließlich auf den Morästen des Liberalismus politisch oder des kantischen Idealismus „philosophisch“ auszuruhen.
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