Название: Gesammelte Werke
Автор: Джек Лондон
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Gesammelte Werke bei Null Papier
isbn: 9783962813475
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Das ist doch, zum Teufel, dachte er, unbedingt etwas Wirkliches. Und er drehte sich deshalb wieder auf die andere Seite, um auch hier die wirkliche Umgebung zu sehen, die die Vision ihm vorhin verhüllt hatte. Aber der See lag immer noch schimmernd da, und das Schiff war genauso deutlich zu erkennen wie vorher. War es denn trotz allem etwas Wirkliches? Er schloss die Augen längere Zeit und dachte nach. Dann kam die Erleuchtung über ihn. Er war in nordöstlicher Richtung gewandert, von der Dease-Wasserscheide bis ins Coppermine-Tal. Dieser schimmernde See war nichts anderes als das Polarmeer.
Das Schiff musste ein Walfänger sein, das von der Mündung des Mackenzie ostwärts, weit ostwärts abgetrieben war. Jetzt lag es in der Coronation-Bucht vor Anker. Er entsann sich der Karte von der Hudson-Bucht, die er vor langer Zeit einmal gesehen hatte, und alles erschien ihm jetzt klar und vernünftig.
Er setzte sich auf und überlegte, was er im Augenblick tun könnte. Die Fußlappen, die er sich aus seinen Decken gemacht hatte, waren schon ganz durchlöchert, und seine Füße waren ungestalte Klumpen von rohem Fleisch. Seine letzte Decke war auch schon längst dahin. Gewehr und Messer hatte er ebenfalls verloren. Irgendwo hatte er auch seinen Hut liegenlassen und damit das Päckchen Streichhölzer, das er unter das Band gesteckt hatte. Aber die, welche er auf seiner Brust trug, waren in Sicherheit im Tabaksbeutel, in Ölpapier gewickelt. Er sah auf die Uhr. Sie zeigte, dass es bereits elf war, und sie ging merkwürdigerweise immer noch. Er hatte sie also offenbar immer aufgezogen.
Er war ruhig und gefasst. Obgleich äußerst kraftlos, empfand er doch keine Schmerzen. Er war nicht einmal hungrig. Der Gedanke an Essen war ihm sogar unangenehm, und was er in Bezug auf Essen tat, geschah nur aus Vernunftsgründen. Er riss sich die Hosen bis zu den Knien ab und wickelte sie um seine Füße. Auf irgendeine geheimnisvolle Weise war es ihm gelungen, seinen Zinnbecher zu behalten. Er wollte etwas heißes Wasser trinken, ehe er die Wanderung nach dem Schiffe antrat, von der er bereits voraussah, dass sie furchtbar werden würde.
Seine Bewegungen waren sehr langsam. Er zitterte, wie wenn er einen Schlaganfall gehabt hätte. Er wollte aufstehen, um trockenes Moos zu sammeln, musste sich aber damit begnügen, auf Händen und Füßen herumzukriechen. Einmal kroch er ganz nahe an den kranken Wolf heran. Das Tier zog sich zögernd von ihm zurück, während es sich um das Maul leckte mit einer Zunge, die kaum Kraft genug besaß, um sich überhaupt bewegen zu können. Der Mann sah, dass sie nicht die gewöhnliche gesunde, rote Farbe hatte. Sie war von einem gelblichen Braun und, soweit er sehen konnte, mit einem körnigen, halbtrocknen Schleim belegt.
Als er eine Menge heißen Wassers verschlungen hatte, fand der Mann, dass er imstande war, aufzustehen und sogar weiterzuwandern, jedenfalls so gut, wie man es von einem sterbenden Manne erwarten durfte. – Jede Minute beinahe war er genötigt haltzumachen, um auszuruhen. Seine Schritte waren schwach und unsicher, genau wie die Schritte des Wolfes, der ihm nachtrottete. Und als die Nacht kam und die Finsternis die schimmernde See und das Schiff verhüllte, wusste er, dass er ihnen nur um vier Meilen nähergekommen war.
Die ganze Nacht hörte er das Schnaufen und Husten des kranken Wolfes, und hin und wieder vernahm er aus der Ferne des Quieken der Renntierkälber. Rings um ihn war Leben genug, aber es war ein starkes, gesundes Leben, höchst lebendig und lebenslustig. Und er wusste auch, dass der kranke Wolf an der Fährte des kranken Menschen kleben würde in der Hoffnung, dass der Mann zuerst sterben würde. Als er am Morgen aufwachte und die Augen öffnete, sah er, wie der Wolf ihn mit traurigen und hungrigen Augen anstarrte. Das Tier hockte da, die Rute zwischen den Beinen, wie ein elender und verzweifelter Köter. In dem schneidend kalten Morgenwind zitterte und grinste es mutlos, als der Mann es mit einer Stimme anredete, die kaum mehr als ein heiseres Flüstern war.
Die Sonne stieg strahlend empor, und den ganzen Morgen stolperte und strauchelte der Mann vorwärts, dem Schiff auf der schimmernden See zu. Das Wetter war wundervoll. Es war der kurze Spätsommer dieser Breitengrade. Er dauerte vielleicht eine Woche. Morgen oder übermorgen konnte er schon vorbei sein.
Am Nachmittag stieß der Mann auf eine Fährte. Es war ein anderer Mensch gewesen, der nicht mehr gegangen, sondern sich auf allen vieren weitergeschleppt hatte. Er dachte, dass es wohl Bill gewesen sein müsste, dachte es aber dumpf und gleichgültig. Er empfand nicht einmal irgendwelche Neugierde dabei. In Wirklichkeit hatte ihn die Fähigkeit, sich zu erregen und sich rühren zu lassen, längst verlassen. Er war auch nicht mehr imstande, Schmerz zu empfinden. Magen und Nerven hatten sich bereits schlafen gelegt. Es war nur das Leben selbst, das ihn weitertrieb. Er war sehr müde, sehr erschöpft, aber er weigerte sich zu sterben. Und weil das Leben in ihm sich zu sterben weigerte, aß er immer noch Moosbeeren und Elritzen und trank heißes Wasser. Deshalb behielt er auch den kranken Wolf im Auge.
Er folgte der Fährte des anderen Mannes, der auf allen vieren weitergekrochen war, bis er schließlich zu einer Stelle kam, wo die Fährte aufhörte. Hier fand er einige frisch abgenagte Knochen und die Fährten vieler Wölfe im feuchten Moos. Er fand auch einen elchledernen Beutel, der genau wie der seine war. Scharfe Zähne hatten ihn zum Teil zerrissen. Er hob ihn auf, obgleich sein Gewicht fast zu schwer für seine schwachen Finger war. Bill hatte das Gold also bis zum letzten mitgeschleppt. Ha, ha … Jetzt konnte er den guten Bill auslachen! Er allein blieb am Leben und brachte den Beutel mit dem Golde zu dem Schiff in der schimmernden See. Sein Lachen war heiser und gespensterhaft; es klang wie das Krähen eines Raben, und der Wolf schloss sich ihm an und begann melancholisch zu heulen. Der Mann hörte plötzlich auf zu lachen. Wie konnte er über Bill lachen – falls es wirklich Bill war –, wenn diese Knochen, die so rosig und so sauber abgenagt aussahen, tatsächlich die Knochen Bills waren.
Er wandte sich ab. Gut, Bill hatte ihn schmählich im Stich gelassen. Aber dennoch wollte er das Gold nicht nehmen und auch nicht an Bills Knochen saugen! Bill würde es freilich getan haben, wenn die Lage die umgekehrte gewesen wäre, überlegte er, während er weiterhumpelte.
Er gelangte zu einem größeren Tümpel. Als er sich darüber beugte, um nach Elritzen zu sehen, riss er seinen Kopf schnell zurück, als ob er gestochen worden wäre. Er hatte sein eigenes Spiegelbild im Wasser gesehen. So grässlich war es, dass seine Empfindsamkeit, die sonst eingeschlafen war, lange genug wach blieb, um einen furchtbaren Eindruck auf СКАЧАТЬ