Название: Gesammelte Werke von Dostojewski
Автор: Федор Достоевский
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788027204205
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»Das ist wieder eine Verdrehung von dir! Den Anzug hatte ich mir schon vorher machen lassen. Eben dieser neue Anzug brachte mich erst auf den Gedanken, euch alle hinters Licht zu führen.«
»Sind Sie wirklich ein solcher Meister in der Kunst, sich zu verstellen?« fragte Raskolnikow lässig.
»Sie glauben es wohl nicht? Warten Sie nur, ich werde Sie auch noch einmal anführen – ha-ha-ha! Nein, wissen Sie, ich wollte Ihnen noch etwas im Ernste sagen. Wir reden hier über Streitfragen, Verbrechen, Gesellschaft, kleine Mädchen usw.: dabei ist mir jetzt ein Aufsatz von Ihnen eingefallen, der mich übrigens schon immer interessiert hat. ›Über das Verbrechen‹ oder wie Sie ihn betitelt haben; ich habe die Überschrift vergessen, ich besinne mich nicht darauf. Vor zwei Monaten hatte ich das Vergnügen, ihn in der Zeitschrift für Wissenschaft und Kunst zu lesen.«
»Meinen Aufsatz? In der Zeitschrift für Wissenschaft und Kunst?« fragte Raskolnikow erstaunt. »Ich habe allerdings vor einem halben Jahre, als ich die Universität verließ, durch die Lektüre eines Buches angeregt, einen solchen Aufsatz geschrieben; aber ich habe ihn damals der Wissenschaftlichen Wochenschrift und nicht der Zeitschrift für Wissenschaft und Kunst eingereicht.«
»Aber erschienen ist er in der Zeitschrift für Wissenschaft und Kunst.«
»Die Wissenschaftliche Wochenschrift ging ein; darum wurde er nicht gedruckt …«
»Ganz richtig; aber die Wissenschaftliche Wochenschrift wurde bei ihrem Eingehen mit der Zeitschrift für Wissenschaft und Kunst verschmolzen, und darum erschien auch Ihr Aufsatz vor zwei Monaten in der letzteren. Haben Sie das nicht gewußt?«
Raskolnikow wußte wirklich nichts davon.
»Aber ich bitte Sie! Sie können doch von der Zeitschrift ein Honorar für Ihren Aufsatz verlangen! Was sind Sie nur für ein Mensch! Sie leben so zurückgezogen, daß Ihnen nicht einmal Dinge, die Sie direkt angehen, bekannt sind. Was ich Ihnen gesagt habe, ist eine Tatsache!«
»Hurra, Rodja! Ich habe auch nichts davon gewußt!« rief Rasumichin. »Ich gehe noch heute in den Lesesaal und lasse mir die Nummer geben! Vor zwei Monaten ist es gewesen? Weißt du das Datum, Porfirij? Nun, das tut nichts; ich werde den Aufsatz schon finden. Das ist ja famos! Und davon sagt er einem nichts!«
»Woher haben Sie denn erfahren, daß der Aufsatz von mir war? Er war doch nur mit einem Buchstaben unterzeichnet.«
»Das habe ich nur zufällig erfahren, und erst in diesen Tagen. Vom Redakteur; ich bin mit ihm bekannt … Der Aufsatz hat mich außerordentlich interessiert.«
»Soweit ich mich erinnere, erörterte ich den Seelenzustand des Verbrechers während seiner ganzen Beschäftigung mit dem Verbrechen.«
»Jawohl, und Sie behaupten, daß die eigentliche Ausführung des Verbrechens immer von einem Krankheitszustande begleitet sei. Sehr originell, in der Tat; aber … was mich interessierte, war eigentlich nicht dieser Teil Ihres Aufsatzes, sondern ein Gedanke, den Sie am Ende Ihres Aufsatzes äußern, aber leider nur andeuten, ohne ihn klar auszuführen … Kurz, wenn Sie sich erinnern, es wird dort darauf hingedeutet, daß es auf der Welt Individuen gibt, die allerlei Exzesse und Verbrechen begehen können, … das heißt, nicht bloß können, sondern ein Recht dazu haben, und daß für sie die Gesetze nicht geschrieben sind.«
Raskolnikow lächelte über diese gewaltsame, absichtliche Entstellung seines Gedankens.
»Wie? Was ist das? Ein Recht, Verbrechen zu begehen? Aber doch nicht, weil ›die Gesellschaft‹ daran schuld wäre?« erkundigte sich Rasumichin ganz erschrocken.
»Nein, nein, nicht eigentlich deswegen«, antwortete Porfirij. »Der Kern der Sache ist, daß in Herrn Raskolnikows Aufsatze alle Menschen in gewöhnliche und außerordentliche eingeteilt werden. Die gewöhnlichen sind zum Gehorsam verpflichtet und haben kein Recht, das Gesetz zu überschreiten, eben deswegen, weil sie nur gewöhnliche Menschen sind. Aber die außerordentlichen haben das Recht oder gar die Pflicht, allerlei Verbrechen zu begehen und in jeder Weise das Gesetz zu übertreten, eben darum, weil sie außerordentliche Menschen sind. So steht es ja wohl in Ihrem Aufsatze, wenn ich nicht irre?«
»Aber wie denn? So kann es doch unmöglich dastehen?« murmelte Rasumichin verblüfft.
Raskolnikow lächelte wieder. Er hatte gleich von vornherein durchschaut, wie die Sache lag und wohin er gebracht werden sollte; seinen Aufsatz hatte er ganz gut im Gedächtnis. Er beschloß, die Herausforderung anzunehmen.
»Ganz so steht es allerdings nicht in meinem Aufsatze«, begann er schlicht und bescheiden. »Indessen gebe ich zu, daß Sie den Gedanken annähernd richtig wiedergegeben haben, und wenn Sie das gern hören, sogar vollständig richtig …« (Er tat so, als mache es ihm Vergnügen, zuzugeben, daß die Wiedergabe vollständig richtig sei.) »Der Unterschied ist nur der, daß ich gar nicht behaupte, außerordentliche Menschen müßten und sollten unter allen Umständen allerlei Exzesse begehen, wie Sie sagen. Ich meine sogar, der Druck eines solchen Aufsatzes wäre gar nicht gestattet worden. Sondern ich habe ganz einfach darauf hingedeutet, daß ein außerordentlicher Mensch das Recht habe, … das heißt, nicht ein offizielles Recht, sondern sozusagen ein persönliches Recht, seinem Gewissen die Überschreitung gewisser Hindernisse zu gestatten, aber einzig und allein in dem Falle, wenn die Durchführung seiner Idee (die mitunter vielleicht der gesamten Menschheit Heil und Segen bringt) dies verlangt. Sie äußerten sich dahingehend, daß mein Aufsatz unklar wäre; ich bin bereit, ihn Ihnen nach Möglichkeit zu erklären. Vielleicht irre ich mich nicht, wenn ich annehme, daß Ihnen dies erwünscht ist; nun schön! Meine Ansicht ist also folgende: Wenn die Entdeckungen Keplers und Newtons infolge irgendwelcher Umstände den Menschen schlechterdings nicht anders hätten bekannt werden können als dadurch, daß das Leben von einem, von zehn, von hundert usw. Menschen zum Opfer gebracht wurde, die der Veröffentlichung dieser Entdeckungen störend oder hindernd im Wege standen, so hätte Newton das Recht und sogar die Pflicht gehabt, … diese zehn oder hundert Menschen zu beseitigen, um seine Entdeckungen der ganzen Menschheit bekannt zu machen. Daraus folgt jedoch durchaus nicht, daß Newton das Recht gehabt hätte, jeden beliebigen Menschen, der ihm gerade in die Quere kam, totzuschlagen oder jeden Tag auf dem Markte zu stehlen. Ferner entwickelte ich, meiner Erinnerung nach, in meinem Aufsatze den Gedanken, daß alle … nun, sagen wir zum Beispiel alle Gesetzgeber und Führer der Menschheit, von den ältesten angefangen, und dann weiter Lykurg, Solon, Mohammed, Napoleon und so fort – daß diese alle, ohne Ausnahme, Verbrecher waren, schon allein deswegen, weil sie durch die neuen Gesetze, die sie gaben, die alten, von den Vätern überkommenen und von der Gesellschaft für heilig erachteten Gesetze verletzten und natürlich auch vor Blutvergießen nicht zurückschraken, wenn allein dieses Blutvergießen (und es handelte sich dabei oft um ganz unschuldiges Blut, das heldenmütig bei der Verteidigung der alten Gesetze vergossen wurde) ihnen zur Durchführung ihrer Absichten helfen konnte. Es ist sogar beachtenswert, daß die allermeisten dieser Wohltäter und Führer der Menschheit skrupellos Ströme von Menschenblut vergossen haben. Kurz, ich kam zu dem Ergebnis, daß nicht nur die eigentlich großen Männer, sondern auch diejenigen, die nur einigermaßen fähig sind, neue Bahnen einzuschlagen, das heißt, die nur einigermaßen imstande sind, etwas Neues zu sagen, daß diese alle zufolge ihrer Natur Verbrecher sein müssen – selbstverständlich mehr oder weniger. Sonst würde es ihnen schwer werden, aus den alten Bahnen herauszukommen; und andrerseits, in den alten Bahnen zu verharren, damit können sie sich auch nicht bescheiden, wiederum zufolge ihrer Natur, und meiner Ansicht nach dürfen sie sich sogar nicht einmal damit bescheiden. Kurz, Sie sehen, daß bis dahin in meinen Ausführungen nichts besonders Neues liegt. Das alles ist schon tausendmal gedruckt und gelesen worden. Was meine Einteilung der Menschen in gewöhnliche und außerordentliche СКАЧАТЬ