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Naivität sahen sie in den Verteidigungsgrenzen des Musa Dagh nicht ein strenges Kriegslager, dem sie zu getreuem Ausharren verpflichtet waren, sondern eine Herberge, deren Mietzins sie durch einen fast vierzigtägigen Waffendienst hoch bezahlt hatten. Jetzt brach gewissermaßen der Hunger den Vertrag, da bis auf einen widerlichen Knochenhaufen der Südbastion seit Tagen von den Herbergsleuten keine Nahrung geliefert worden war. Sollten sie wirklich langsam verhungern, nur um den Türken in die Hand zu fallen? Was ging sie das Volk der sieben Dörfer an? Nur eine kleine Minderheit stammte aus dem armenischen Tal. Sie hatten schließlich auch vor der Besitzergreifung des Musa Dagh durch Ter Haigasun und Gabriel Bagradian auf den Gebirgen des Landes gelebt und sich ernährt, so gut oder so schlecht es ging. Keiner von ihnen dachte daran, das Schicksal der fünftausend zu teilen. Wozu auch? Sie konnten sehr leicht ihr Leben retten. Für sie würde einfach wieder der Zustand vor den vierzig Tagen eintreten. Jenseits des Orontes, im Süden, erstreckte sich der kahle weitläufige Dschebel el Akra bis gegen Latakijeh hin. Dieser Dschebel Akra war nicht quellenreich und grün wie der Musa Dagh, sondern nackt, zerrissen, unwegsam und somit der idealste Aufenthalt für flüchtige Deserteure. Ein ganz einfacher Plan: Nachts wollten sie, etwa hundert Mann stark, an Habaste und den Ruinen vorbei in die Orontesebene einbrechen. Da alles Militär im Bergtal und auf den Nordhöhen konzentriert war, so gab es unten wahrscheinlich nur ein paar Saptiehposten, die in der Nacht den Bergrand und die Orontesbrücke bei El Eskel bewachten. Mit einem gefährlichen Widerstand war kaum zu rechnen. Ob es zu einem Kampf kam oder nicht, die hundert würden ohne Zweifel die schmale Ebene schnell durchquert und bei Sonnenaufgang das Gebirge erreicht haben. Während der heimlichen Beratungen hatten ein paar ehrenhafte Elemente die Frage gestellt, ob es nicht möglich sei, die Lagerführung von dem Abmarschentschluß in Kenntnis zu setzen. Sie waren aber wegen dieser Frage fast verprügelt worden. Was wäre die Folge einer solchen schwachsinnigen Bekanntmachung? Bagradian und Tschausch Nurhan würden sie wahrscheinlich zum Teufel ziehen lassen, ihnen vorher aber durch die Nordzehnerschaften heilig die Gewehre abnehmen. Die Anständigkeit stand demnach hier, wie so oft auf dieser Welt, außerhalb des Menschenmöglichen. Im übrigen aber befanden sich die besseren Elemente in einer erschreckenden Minderzahl, während der radikale Flügel eine gewaltige Partei bildete. Dieser verbrecherische Flügel wollte sich aber nicht mit einem stillen Verschwinden begnügen. Und auch er hatte für sein Vorhaben vernünftige Gründe anzuführen. Da war vorerst die Geschichte mit der Munition. Von ihr hing Leben und Zukunft einer räubernden und wildernden Freischar ab. In diesem Sinne hatte schon bei jenem Auftritt an dem verbotenen Feuer der Langhaarige kriecherisch frech von Bagradian Patronenmagazine gefordert. Mit der Munition ging Tschausch Nurhan äußerst sparsam um. Nur wenn ein Gefecht unmittelbar zu erwarten war, wurden die Verschläge in die Stellungen hinausgetragen und selbst dann noch verteilte ein Vertrauensmann der Führung sehr geizig die Magazine. Gegenwärtig besaßen die Deserteure kaum fünf Schuß für jedes Gewehr. Ein unmöglicher Zustand! In der Regierungsbaracke aber lagen die Verschläge hochgeschichtet und außerdem noch ganze Tröge mit Patronen, denn Nurhans Manufaktur hatte in ununterbrochener Arbeit nicht nur die ausgeschossenen Hülsen neu gefüllt, sondern auch neue Kugeln hergestellt. Die Deserteure sahen die unabweisliche Notwendigkeit vor sich, ihren Munitionsbedarf aus den allgemeinen Beständen zu ergänzen. Zu diesem Zwecke mußte der Regierungsbaracke ein entsprechender Besuch abgestattet werden, wann und wie, das schien noch nicht festzustehen. Dabei konnte man sich auch in der Stadtmulde ein wenig umsehn, ob nicht dieses und jenes noch mitzunehmen wäre. Der Aufenthalt auf dem rauhen Dschebel el Akra erforderte gewisse Gebrauchsartikel, die das Volk des Damlajik, dessen Schicksal ja besiegelt war, fernerhin nicht nötig hatte. Und wenn man sich schon in der Stadtmulde umsah, so durfte man wohl einige unbeliebte Persönlichkeiten ins Auge fassen, Ter Haigasun zum Beispiel. Der Priester hatte aus seinem Haß gegen die Deserteure niemals ein Hehl gemacht und sie an den Gerichtstagen und bei jeder möglichen Gelegenheit die Härte des Lagergesetzes fühlen lassen. Die gesamte Südbastion war alles in allem zu fünf Fasttagen verdonnert worden. Und nicht genug damit. Ter Haigasun hatte sich nicht gescheut, den und jenen Deserteur im Notfall zu scharfer Bastonade zu verurteilen. Eine kleine Abrechnung konnte mithin nicht schaden. Aus all diesen Gründen floß mit dem Fluchtplan der zweite Plan eines Putsches zusammen, womit man die Sache nur ganz ungefähr bezeichnet. Wie weit Sarkis Kilikian an diesem verbrecherischen Vorhaben beteiligt war, das läßt sich nun und in alle Ewigkeit nicht mehr feststellen, ebensowenig wie sich seine aktive Teilnahme an dem Attentat gegen den Fürsten Galitzin wirklich feststellen ließ. Er lag noch immer auf dem Rücken und schien sich weder um Oskanian noch auch um die sauberen Andeutungen des Langhaarigen zu scheren. Hätte ein Sterblicher in sein Inneres schauen können, er hätte nichts andres gefunden als Ungeduld. Die Ungeduld des jagenden Wolkenhimmels über seinem Kopf. Hinter seiner erstorbenen Maske raste die Sehnsucht, auszubrechen, aus einer Gefangenschaft in die andre.
Der Lehrer stand schon längst auf seinen kläglichen Beinen. Er wölbte die Hühnerbrust vor, als wolle er, der Selbstmordverherrlicher, beweisen, daß er vor keinem verwegenen Frevel zurückscheue. Seinen Mut aber hätte er jetzt nur dadurch beweisen können, wenn er den Deserteuren im Galopp durchgegangen wäre. Doch Oskanian rührte sich nicht, um das Volkslager zu warnen. Mit gespitztem Mund stand er da und wiegte den Kopf. Kilikian und die andern konnten das für ein Zeichen der Bewunderung halten. Im Hirn des Lehrers flatterte der Gedanke der Warnung wie ein verfangener Vogel. Doch immer wieder stand die eitle Furcht dagegen, Kilikian und die andern Gesellen könnten ihn für einen Weichling halten und nicht für einen verfluchten Kerl unter verfluchten Kerlen. Da aber geschah es, daß gegen seinen Willen ein undeutlicher, aber abgründig hochverräterischer Hinweis ihm über die Lippen kam:
»Für morgen am Spätnachmittag hat Ter Haigasun einen außerordentlichen Bittgottesdienst angesetzt. Die Zehnerschaften aber bleiben in den Stellungen ...«
Dabei zwinkerte er die Deserteure trübe und liebedienerisch an. In diesem Blick lebte nicht einmal mehr der widerlich überhebliche Kauz, sondern nur ein gebrochener Feigling. Einer der Spießgesellen aber beantwortete Oskanians Selbsterniedrigung in gebührlicher Form:
»Damit du dein Maul hältst, Lehrer, wirst du dich heute und morgen von hier nicht fortrühren.«
Die Deserteure stießen ihren Regierungskommissär grob vor sich her, obgleich das gar nicht nötig war, denn er trabte als freiwilliger Gefangener ohne Fluchtgedanken mit. Und man ließ ihn tatsächlich keine Sekunde lang aus den Augen. Er saß trübsinnig auf einem der Beobachtungspunkte und stierte auf das schmale Straßenband tief unten hinab, das von Antakje nach Suedja führt. Der Haß gegen Gabriel, Juliette, Ter Haigasun flackerte mit einem Mal sehr bescheiden in seinem schreckerfüllten Herzen. Er wünschte sehnlichst einen Angriff der Türken herbei. Diese jedoch schienen gar nicht daran zu denken, sich auf dem offenen Steinhang noch einmal blutige Köpfe zu holen. Die Straße in der Orontesebene war friedlich belebt. Man konnte nicht eine einzige Abteilung von Soldaten oder Saptiehs unterscheiden. Ochsenwagen, Packesel und sogar ein paar Kamele zogen langsam ihres Weges zum Wochenmarkt nach Suedja, als lebe kein einziger Armeniersohn mehr auf dem Musa Dagh. Nur bei Jedidje am Fuß der Vorberge erhob sich plötzlich eine Staubwolke. Als sie sich verzog, konnte man ein kleines graues Militärauto erkennen.
Nun war er da, der vierzigste Tag auf dem Musa Dagh, der achte des Septembermonats und der dritte des uneingeschränkten Hungers. Die Frauen hatten sich heute die Mühe erspart, auf die Suche nach leerem Grünzeug zu gehn, um daraus eine bitterschmeckende Brühe zu bereiten. Das blanke Quellwasser tat denselben Dienst. Und wenn man dazu irgend etwas knabberte, ein fettes grünes Rohr, eine geschälte Wurzel, dann waren auch die Kauwerkzeuge beschäftigt. Alles, was noch auf den Beinen stehn konnte, hatte sich an den verschiedenen Quelläufen gelagert, alte Männer, Mütter, Mädchen, Kinder. Es war ein sonderbarer Anblick, wenn sich immer wieder eines der todesmatten Gesichter zu den Wassersträhnen hinabbeugte, um ohne Durst aus der hohlen Hand zu trinken, als sei dies strenge Pflicht. Verwunderlich genug, daß diese Nährquellen der Erde nach so vielen regenlosen Wochen, nach solchem tausendmündigen Verbrauch noch immer nicht versiegt waren. Nun hatten sich die Menschen zu ihnen geschleppt und fingen das Leben nur mehr mit Händen und Lippen auf, ohne es in Krügen und Eimern nach Hause zu tragen.