Es könnte beinahe für sinnbildlich gelten, daß Stephan als Gegengabe für Hammelwurst und Fladenbrot französische Ölsardinen und Schweizer Schokolade anzubieten hatte, fremdartige Delikatessen also, die Haik kaum dem Namen nach kannte. Die Knaben beherrschten sich nicht, sondern aßen reichlich von den Vorräten, ohne an die nächsten Tage zu denken. Haik aber besann sich plötzlich, packte das Seinige weg und gab Stephan den Rat:
»Trink lieber Wasser und spar das Essen!«
So geschah es auch. Sie tranken aus dem Aluminiumbecher der Thermosflasche das Quellwasser in großen Mengen, dem Stephan seinen Wein beimischte. Er fühlte sich so wohl, als befände er sich auf einer lustigen Ferienwanderung und nicht mit einem anderen Armeniersohn auf diesem todumdrohten Botengang mitten in die erbarmungslose Hauptstadt, zu dem er nicht einmal Recht und Beruf hatte. Alles Schmerzliche schien endgültig auf dem Damlajik zurückgeblieben zu sein. Welch ein innig-zappliges Vergnügen war es doch, nach einer durchwanderten Nacht als Mensch in dieser harmlos guten Morgenwelt zu leben. Stephan schob die zusammengefaltete Decke unter seinen Kopf. Immer wärmer flutete die Frühe. Noch einmal hob er sich auf und lallte kindisch:
»Werden keine wilden Tiere kommen?«
Haik legte gewichtig sein breites Dolchmesser neben sich:
»Du brauchst keine Angst zu haben. Wenn ich auch schlafe, so sehe ich doch alles.«
Stephan hatte keine Angst. Welch ein guter Wächter war Haik, selbst wenn er schlief! Niemals noch hatte er zu einem menschlichen Wesen anschmiegsameres Vertrauen gefühlt als zu diesem groben Burschen, um dessen Bewunderung er immer gebuhlt hatte. Jetzt ergab er sich ihm rückhaltlos als seinem Führer. Aus dem Schlafe schon tastete seine Hand suchend nach dem Freunde.
»Wir müssen uns jetzt einen Tarbusch machen«, erklärte Haik, »damit wir nicht auffallen, wenn wir irgendwelchen Leuten begegnen.«
Er faltete seinen Aghil, das zusammengedrehte Gürteltuch, auseinander und wand es kunstgerecht um die Filzmütze. Da Stephan mit seiner Schärpe schlechte Arbeit leistete, half er ihm, den Kopfschmuck des Propheten richtig zu schlingen. Dabei belehrte er den Unerfahrenen:
»Wenn es nötig wird, mußt du mir alles genau nachmachen. Am besten aber, du tust den Mund nicht auf.«
Es war spät am Nachmittag. Zwischen den Buchen- und Eichenwipfeln offenbarte sich ein goldtrunkener Himmel, der von schwebenden Raubvögeln erfüllt war. Die Knaben hatten einen Weg von mehr als sechs Stunden zurückgelegt. Das Wort Weg bedeutete übrigens eine freundliche Übertreibung. Da sich weit und breit kein Hirtensteig mehr zeigte, waren sie einfach in den Wasserrinnen vorwärtsgedrungen, die ja ins Tal führen mußten. Vorwärtsgedrungen ist die richtige Bezeichnung, denn das dichte widerständige Unterholz, Schlingpflanzen und Sträuchermauern, hart und elastisch wie Gummi, doch mit drahtstarren Stacheln bewehrt, hemmten jeden Schritt. Es war kaum zu glauben, wie viele Terrassen und felsige Abhänge überwunden werden mußten. Das Gebirge schien immer eine neue Ausrede zu haben, um sich nicht seinem Ende zu ergeben. Stephan spürte sich selbst nicht mehr. Seine Hände, seine Knie, seine Beine waren mit Wunden und Abschürfungen übersät. Er hatte seit Stunden kein Wort mehr gesprochen, doch auch nicht geklagt. Jetzt saßen die beiden auf einer kahlen Anhöhe, und unter ihnen zog die kalkweiße Paßstraße von Beilan dahin. Sie machte einen funkelnagelneuen Eindruck. Überall wiesen frische Schotterhaufen auf menschliche Arbeit hin. Und wirklich, an dieser Paßstraße, die den Hafen Alexandrette mit der Ebene von Aleppo und dadurch das Mittelmeer mit ganz Asien verbindet, zeigte sich die unbeschränkte Macht und Energie Dschemal Paschas, des Diktators von Syrien. Der unerbittliche General hatte befohlen, daß aus diesem grundlosen, brüchigen Wege binnen einem Monat eine makellos glatte untermauerte Prachtstraße zu entstehen habe; und sie war entstanden, so daß die Türken über die ungehobene Tatkraft, die in ihnen steckte, selbst in Staunen gerieten. An dieser Stelle machte die Straße vor Haiks und Stephans Augen ihren Bogen nach Osten. Sie überblickten nur ein kleines Stück, doch kein Mensch, kein Gefährt, kein Esel, kein Pferd kam in Sicht, hie und da nur flitzte ein Hase oder ein Eichhörnchen über das weiße Band. Sehnsüchtig starrte Stephan auf die gebahnte Möglichkeit hinab. Aber auch Haik schien schwach zu werden und dieser Lockung nicht widerstehen zu können. Ohne sich erst mit Stephan über die verwegene Unvorsichtigkeit zu verständigen, sprang er auf und lief den Abhang hinunter. Als sie die glatte Bahn unter den Füßen spürten, da erfüllte sie eine ähnliche Körperwollust, wie es der gestillte Durst ist. Neuer Ehrgeiz, neue Kraft stieg in Stephan auf. Er hielt mit Haik Schritt. Rechts und links begannen steilere Höhen aufzusteigen. Die Straße wurde zum Hohlweg, zum Engpaß. Dies erhöhte merkwürdigerweise das Sicherheitsgefühl und damit den Leichtsinn. Dann traten die Berge ein wenig auseinander, das Straßengefälle neigte sich stark abwärts. Noch eine Biegung, und die Ebene mußte offen liegen. Von der Strömung des Weges unwiderstehlich mitgerissen, liefen sie jetzt ins Verderben. Denn als sie das Straßenknie überschritten hatten, lag zwar nicht die Ebene vor ihnen, aber ein türkisches Postenhaus, von dem die Halbmondfahne wehte. Vor dem Hause lungerten vier abscheuliche Saptiehs. An den Straßenrändern aber arbeitete mit Spaten, Krampen und Steinhammer eine Abteilung von Inschaat Taburi. Die erschöpften Sinne der Wanderer hatten den Arbeitslärm und die traurig gaumigen Gesänge der Armierungssoldaten nicht gehört. Der Schreck und die Erstarrung waren so groß, daß sich selbst Haik beinahe eine halbe Minute nicht von der Stelle rührte. Dann aber packte er Stephan an der Hand und riß ihn mit sich. Sie stürmten hinter der Biegung in das Gehölz hinein. Unglücklicherweise gab es gerade hier keine Felsblöcke und keine Sträucher, sondern nur schmale junge Buchenstämme, die keine Deckung boten. Sanft stieg der Berg an. Wohin? Vor Haiks innerem Auge beugte sich der eine der Saptiehs vor, legte die Hand über die Augen, spähte scharf, stieß einen Gurgelruf aus und nahm mit der ganzen Mannschaft die Verfolgung auf. Und es war kein Schrecktraum nur. Stimmen! Das Laub raschelte unter den Schritten der Türken. Stephan schloß die Augen und preßte sich eng an Haik. Dieser umfaßte ihn mit dem linken Arm. In der Rechten hielt er das aufgeklappte Dolchmesser. Todesbereitschaft. Doch was so scharf heranflüsterte, das waren keine türkischen Worte:
»Jungens, Jungens! Wo seid ihr? Fürchtet euch nicht!«
Geisterhaft kamen die armenischen Laute. Als Stephan die Augen aufriß, sah er zwischen den Stämmen einen zerlumpten Armierungssoldaten atemlos auftauchen. Ein struppiger Totenkopf mit riesigen Augen. Bis auf diese jammernden Augen glich er beinahe Sarkis Kilikian. Haik faßte sich und steckte das Messer ein. Die Stimme des Straßenarbeiters zitterte vor Aufregung:
»Bist du nicht der Sohn der großen Schuschik, die auf dem Wege nach Yoghonoluk ihr Haus hat? Erkennst du mich nicht?«
Haik ging ungläubig auf das elende Gerippe zu, dem die Fetzen um die Glieder schlotterten, und das zu alldem noch barfuß war. Sein Blick glitt aufmerksam an dem Menschen herab: »Vahan Melikentz aus Azir«, sagte er zögernd, СКАЧАТЬ