Название: Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Dramen & Gedichte (Über 200 Titel in einem Buch)
Автор: Franz Werfel
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788075835543
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»Herr Geheimrat, sind wir Deutschen denn keine Minderheit?«
»Was wollen Sie damit sagen? Ich verstehe Sie nicht.«
»Innerhalb eines gegen Deutschland vereinigten Europas bilden wir eine verflucht gefährdete Minderheit. Es muß nur einmal schiefgehn. Und eine besonders gescheite Geographie haben wir uns auch nicht ausgesucht.«
Das Gesicht des Geheimrats ist nun nicht mehr liebenswürdig, sondern scharf und sehr blaß. Ein Schwall staubiger Mittagshitze schlägt durch das Fenster:
»Sehr richtig, Herr Pastor! Und deshalb hat jeder Deutsche die Pflicht, sich um sein eigenes Volksschicksal zu kümmern und der Blutströme zu gedenken, die, wie Sie es zu nennen belieben, die deutsche Minorität vergießt. Nur unter diesem Gesichtspunkt können wir uns mit der armenischen Frage beschäftigen.«
»Wir Christen sind abhängig von der Gnade Gottes und vom Gehorsam des Evangeliums. Ich sage Ihnen rundheraus, Herr Geheimrat, daß ich jeden andern Standpunkt verwerfe. Seit einigen Wochen werde ich mir täglich klarer darüber, daß den Kindern dieser Welt, den Politikern, die Macht entwunden werden muß, soll die Gemeinschaft des Heilands, des Corpus Christi Wirklichkeit werden auf unserer kleinen Erde ...«
»Gebt dem Cäsar, was des Cäsars ist.«
»Was aber ist des Cäsars außer dem abgegriffenen Groschenstück? Das sagt der Herr in seiner göttlichen Verschlagenheit nicht. Nein, nein! Die Völker sind Untertanen ihrer Artung. Und die Schmeichler, die von ihnen leben wollen, reizen liebedienerisch ihre Eitelkeit. Als wäre es schon ein besonderes Verdienst, als Hund oder Katze, als Kohlrübe oder Kartoffel geboren zu sein. Jesus Christus aber gibt uns das ewige Beispiel, wie der Gottmensch sich in menschliche Artung nur zu dem Zwecke kleidet, um sie zu überwinden. Deshalb sollten auf Erden nur die echten Diener Christi herrschen, und zwar deshalb, weil sie ihre Artung, ihre irdischen Bedingungen überwunden haben. Das ist mein politisches Glaubensbekenntnis, Herr Geheimrat.«
Der preußische Aristokrat gibt nicht die leiseste Ironie zu erkennen:
»Sie haben wie ein eingefleischter Katholik geredet, Herr Pastor.«
»Katholischer als ein Katholik! Denn die Kirche meiner Zuversicht teilt mit keiner Laienmacht die Herrschaft.«
Der Geheimrat klemmt sein Monokel wieder ins Auge, als gebe er damit zu verstehen, daß die Zeitspanne der Erörterungen nun zu Ende sei:
»Ehe wir aber nicht wieder bei der heiligen Inquisition halten, müssen wir armen Kinder der Welt die Verantwortung tragen.«
Johannes Lepsius, der vielleicht ein wenig zu weit gegangen ist, nimmt sich wieder zurück. Seine Worte klingen ruhig, fast abweisend:
»Ich will weiter zu Ihnen offen sein, Herr Geheimrat ... Bis vor einigen Tagen war ich noch hoffnungsvoll und habe geglaubt, der Herr Reichskanzler werde mich in diesem Kampf durch drastischere Mittel unterstützen als bisher. Sie haben mich nun endgültig darüber belehrt, daß unsere Regierung der Pforte gegenüber gebundene Hände hat und mit den üblichen Demarchen und Interventionen ihr Auslangen finden muß. Gut! Mich aber bindet keinerlei Staatsräson. Und auf meinen Schultern allein liegt jetzt die armenische Sache in Deutschland. Ich bin nicht gewillt, Konzessionen zu machen und zurückzuweichen. In Gemeinschaft mit meinen Freunden werde ich die Aufklärung in das Volk hinaustragen. Denn nur wenn die Menschen die ganze Wahrheit wissen, kann ich das christliche Hilfswerk auf ein breites Fundament stellen ... Ich bitte daher, mir wenigstens bei dieser Tätigkeit nicht in den Arm zu fallen.«
Der Geheimrat, der sich in das Studium seiner Armbanduhr vertieft hat, hebt erfreut den Kopf:
»Eine Offenheit ist der anderen wert, Herr Pastor ... Sie werden es mir also nicht übelnehmen, wenn ich Ihnen mitteile, daß man schon lange ein Auge auf Sie hat. Ihr Aufenthalt in Konstantinopel war Gegenstand so mancher Beschwerde. Ich sage es noch einmal, Sie ahnen nicht, wie verwickelt die Dinge liegen. Es tut mir leid. Ich habe die größte Hochachtung vor Ihrer humanitären Tätigkeit. Und doch, diese Tätigkeit ist, nun, sie ist im politischen Sinne unerwünscht. Ich würde Ihnen raten, Verehrtester, sie einzuschränken und möglichst unauffällig zu gestalten.«
Die Antwort des Pastors fällt im Ton eher mürrisch als feierlich aus: »An mich ist ein Ruf ergangen. Keine Macht der Welt kann mich hindern, diesem Ruf zu folgen.«
»Sagen Sie das nicht, Herr Doktor Lepsius«, erschrickt der Geheimrat mit beinahe bestürzter Liebenswürdigkeit, »einige Mächte der Welt arbeiten schon daran, Sie gründlich zu hindern.«
Der Pastor tastet seine linke Rockseite eingehend ab. Dann erhebt er sich:
»Ich bin Ihnen äußerst dankbar, Herr Geheimrat, für Ihre Aufrichtigkeit und für Ihren Rat.«
Der hohe schlanke Herr steht mit einer Art selbstgefälliger Verlegenheit, die ihn gut kleidet, vor Lepsius:
»Es freut mich, daß wir uns so rasch verstanden haben, Herr Pastor. Sie sehen blaß aus. Es wäre für Sie am bekömmlichsten, eine Zeitlang auszuspannen und in den Tag hinein zu leben. Wohnen Sie nicht in Potsdam?«
Johannes Lepsius bedauert, den Herrn Geheimrat so lange in Anspruch genommen zu haben. Dieser aber geleitet ihn mit dem reizendsten Lächeln zur Tür:
»Aber nein, Herr Pastor, eine interessantere Stunde habe ich lange nicht erlebt.«
Unten auf der mittagsschwülen Wilhelmstraße prüft sich Johannes Lepsius, ob er sich dem Herrnworte gemäß sanft wie eine Taube und klug wie eine Schlange verhalten habe. Er muß aber schnell erkennen, daß er sowohl als Taube wie auch als Schlange versagt hat. Zum Glück jedoch ist er vorsichtig genug gewesen, sich schon vor längerer Zeit alle nötigen Pässe, Sichtvermerke, Reiseerlaubnisse, Geldausfuhrbewilligungen zu beschaffen. Darum hat er vorhin seine linke Brustseite so eingehend nach diesen Heiligtümern betastet. Er dreht sich scharf um, ob ihn nicht jetzt schon ein Kriminalbeamter verfolge. Sein Entschluß ist gefaßt. Der D-Zug nach Basel geht um drei Uhr vierzig. Er hat noch mehr als drei Stunden Zeit, um nach Hause zu telefonieren, sein Gepäck kommen zu lassen und sich sonst auf die Reise vorzubereiten. Morgen schon können die Grenzen für ihn gesperrt sein. Doch er muß nach Stambul kommen! Dort gehört er hin, wenn er auch jetzt noch keine deutliche Vorstellung hat, warum. In Deutschland jedenfalls geht sein Hilfswerk auch ohne ihn weiter. Die Organisation ist geschaffen, das Büro eingerichtet, Gönner, Freunde, Mitarbeiter sind gewonnen. Sein Platz ist nicht in der gesicherten gleichgültigen Ferne, sondern an der Küste des Blutmeeres selbst.
Auf dem Potsdamer Platz herrscht ein betäubender Verkehr. Der kurzsichtige Lepsius wartet lange auf eine Gelegenheit, heil auf die andre Seite zu kommen. Das Donnern, Rollen, Rattern, Kreischen der Autos, Autobusse und Straßenbahnen dröhnt als ein zusammengeschmolzener Ton an sein Ohr. Wie Glocken einer ungeheuren barbarischen Kathedrale. Ein kleines Gedicht fällt ihm ein, das er vor vielen Jahren an Bord des tanzenden Schiffleins niedergeschrieben hat, das ihn an dem Felseneiland Patmos-Patino vorübertrug, an der heiligen Insel des Apostels und Offenbarers Johannes. Jetzt tönt in ihm der Refrain auf:
»A und O, A und O
Läuten die Glocken von Patino.«
Und dieser Versklang scheint zwei so gegensätzliche örtlichkeiten wie Patmos und Potsdamer Platz miteinander zu verbinden.
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