Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr. Franz Werfel
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Читать онлайн книгу Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr - Franz Werfel страница 72

СКАЧАТЬ Beistand zu leisten. Die Anwesenheit Gonzagues fiel gar nicht mehr auf. Er hatte die letzten Tage zumeist in der Villa verbracht. Sein Hauswirt, der Apotheker Krikor, so behauptete er, lebe seit der großen Versammlung in einer sonderbar gestörten Geistesverfassung. Er kümmere sich um nichts, bereite keine Lebensmittel und kein Gerät fürs künftige Lagerleben vor und vernachlässige, obgleich gewähltes Mitglied des Führerrates, die ihm zugewiesene Obsorge für die Allgemeinheit in sträflicher Art. In der Apotheke gehe es drunter und drüber. Der taube Hausknecht bediene, alles verwechselnd, die Kunden, die das Gewölbe belagerten, um sich mit Krikors mageren Heilmittelschätzen sowie mit Petroleum, Spiritus, Hanfstricken, Besen und ähnlichem Zeug rechtzeitig zu versehen. Wegen des kopflosen Verkaufswesens sei es zwischen so alten Freunden wie Bedros Altouni und Krikor zu einem beträchtlichen Krach gekommen. Der Arzt habe großen Lärm geschlagen und den Apotheker in seinem Allerheiligsten überfallen: Es gehe nicht an, daß der blödsinnige Büffel von einem Hausknecht den ganzen Laden an eigensüchtige Schurken ausverkaufe. Die lächerlich geringfügige Menge Tincturae Jodi dürfe nicht an Baghdassar, Howhannes, Dikran, Barsam und andre Hamster aufgeteilt werden. Ob Krikor denn nicht wisse, daß seine schäbigen Arzneien allgemeines Gut bedeuten, ebenso wie Salz, Gewürze, Petroleum nebst allen anderen staubigen Lumpensorten, die er schon seit Jahrzehnten feilbiete. Daraufhin habe sich der Apotheker ganz gegen seine sonstige Art sehr aufgeregt und gerufen, er sei nicht habsüchtig, seit Jahrzehnten opfere er sich schon auf, denn der ganze Apothekenmist bedeute für ihn eine Herabwürdigung seines Daseins. Und um dem Arzt zu beweisen, wer vor ihm stehe, habe Krikor hoheitsvoll das Fenster geöffnet (was nicht oft geschah) und den gesamten Verkauferlös des Tages, Paras, Piaster und Metalliks, auf den Kirchplatz hinausgeschleudert, den Buben zum Raub. Der Arzt, durch diese königliche Gebärde keineswegs erschüttert, habe darauf den Apotheker aufgefordert, seine Bibliothek den Münzen nachfolgen zu lassen, da das Fenster schon offen sei. Damit würde er für sich und andere ein verdienstvolles Werk tun. Gonzague Maris erzählte, daß es ihm selbst nur mit allergrößter Mühe gelungen sei, die zwei kämpfenden Alten zu versöhnen. Heute habe Krikor seine Apotheke für immer geschlossen. Nun halte er sich nur mehr unter seinen von dem neidischen Altouni verlästerten Büchern auf und lese, lese. Nein, das sei nicht ganz richtig, Krikor lese eigentlich gar nicht, sondern wühle nur leidenschaftlich in seinen Schätzen, die er in zweckloser Folge aufschlage und zuklappe, durchblättere und auch nur außen befühle, als wolle er vor dem Abschied seine Bibliothek noch bis zur Neige auskosten. Vielleicht auch zeige sich in diesem Verhalten nur die Qual der Unentschiedenheit, die man ja genau nachfühlen könne. Denn was werde mit Krikors einzigartiger Büchersammlung wirklich geschehen? In Anbetracht dieser Frage sei die Verrücktheit des Apothekers gar nicht so verrückt. Gonzague wußte diese Geschichten von Krikor, seinem Hauswirt, so launig darzustellen, daß Gabriel für ein paar Minuten alles vergaß und lachend Juliette ansah. Es erging ihm merkwürdig mit diesem jungen Menschen, der das armenische Volksverhängnis für seine Person zu einem Abenteuer benützen wollte. Weil ihm diese Absicht (die überdies noch den Journalismus ins Treffen führte) nicht besonders sympathisch war, hatte er dem Griechen erst nach längerem Zögern die gewünschte Erlaubnis erteilt. Im übrigen war sein Gefühl Gonzague gegenüber äußerst schwankend. Das hübsche Gesicht mit dem dünnen Schnurrbärtchen, das den französischen Geschmack übertrieb, war ihm noch vor einer halben Stunde unangenehm gewesen. Jetzt war es ihm wieder angenehm, trotz aller Zweideutigkeit dieses Levantiners und Amerikaners, dieses Musikers und Journalisten, die seine genaue Natur störte. Gonzague war ihm jetzt nicht nur angenehm, seine Anwesenheit machte ihn Juliettens wegen beinahe glücklich. In dieser Nacht zeigte sich Maris nämlich von seiner besten Seite, und es gelang ihm, Juliette zeitweilig aus ihrem verfallenen Zustand herauszureißen. Schließlich hatte dieser »Freiwillige« kein andres Los zu erwarten als alle übrigen. Und doch schien er völlig unbeschwert, ja viel heiterer zu sein als sonst. Er offenbarte zum erstenmal eine unerschöpfliche Beobachtungsgabe, die aber niemals die Grenze des wohlgesinnten Spottes übertrat. Dieses scharfe Feingefühl für Grenzen war eine Eigenschaft Gonzagues, die Gabriel über seine Zweideutigkeit beruhigte. Das Wichtigste aber war, daß er es in dieser tödlichen Nacht zustande brachte, Juliette abzulenken. Und als in später Stunde gegen die Wucht des Wartens nichts mehr aufkommen wollte, sprang er auf:

      »Courage, mes amis, es gibt nur den Augenblick und sonst nichts.«

      Dann setzte er sich zum Piano, um unermüdlich alle möglichen Gassenhauer, Chansons und Schlager zu spielen, die Juliette aus Paris kannte. Die Matchiche verlangte sie dreimal zu hören. Doch nicht nur Juliette, auch Iskuhi und die elegische Howsannah wurden fortgezogen, ohne es zu merken, und begannen Kopf und Glieder im Takt zu bewegen. Die Dienerschaft des Hauses stand verlegen in der Tür des Selamliks. Wenn sich Missak, Kristaphor, Howhannes und die Mädchen auch nicht rührten, so zuckte in ihren Augen trotz aller Todeserwartung doch die Lust der heimischen Tänze des Tarz Bar und des stampfenden Polo Bar. Gabriel Bagradian hatte schon am Abend die Bedienten alle ins Zimmer geladen. Er betrachtete, seitdem der Ausweisungsbefehl sicher war, das Dienstverhältnis als aufgehoben. Was die Hausleute leisteten, geschah nunmehr freiwillig. Jeder einzelne war Herr über sein Los. Angesichts der Verschickung konnte es weder Herrschaft noch Dienerschaft geben. Alle Volksgenossen ohne Unterschied erwarteten in diesen Stunden den Einbruch der Saptiehs. Dies war der Grund, daß auch Sato die Nacht im Empfangszimmer verbrachte. Das gute Futter hatte in den letzten Wochen die Magerkeit der Verwahrlosten etwas gemildert. Es gehörte zur Eigenart der lähmenden Wartezeit, daß alle ihren Abscheu vor dieser kleinen, widerwärtigen Volksgenossin zu überwinden trachteten. Juliette hatte für Sato ein nettes europäisches Hängekleidchen anfertigen lassen, in dem freilich die spitzknochige Hexenhaftigkeit der Kreatur noch deutlicher zutage trat als in dem gestreiften Waisenkittel. (Der Verwalter Kristaphor behauptete, Sato sei gar keine Armenierin, sondern ein Zigeunerbastard aus Persien oder Daghestan.) Das neue Kleid übte auf das Wesen Satos eine sonderbare Wirkung aus. Es nötigte ihr ein Höchstmaß an zivilisiertem Benehmen ab. Obwohl es schon am ersten Tag von den abscheulichsten Flecken verunreinigt war, stolzierte Sato hochmütig umher und drängte ihren Anblick lobsüchtig jedermann auf. (Stephan hingegen hatte zur selben Zeit seiner Mutter das einheimische Bauerngewand abgetrotzt.) Mit Rücksicht auf ihr schmetterlinghaftes Prachtkleidchen, das eine Standeserhöhung sondergleichen bedeutete, schien Sato der Meinung zu sein, daß die geliebte Iskuhi ihrer Zärtlichkeit nicht länger werde widerstehen können. Sie hockte zu Fräulein Tomasians Füßen und ließ sich nicht verjagen. Aufdringlich spielte sie mit den Säumen und Bändern, hob das Röckchen, breitete es aus, raffte es zusammen, um Iskuhis Bewunderung und Wohlgefallen zu erregen. Wenn es ihr nicht gelang, die Augen der Waisenhauslehrerin auf sich zu lenken, dann verzerrte sich ihre gelbliche Fratze und sie preßte den Kopf mit wütendem Druck gegen die Beine Iskuhis: »Kütschük Hanum!« Es zeigte sich aber, daß die zivilisierende Macht des westlichen Kleides nicht groß genug war, um Satos Steppengemüt wirklich zu bändigen. Kaum hatte Gonzague Maris mit seiner übermütigen Musik begonnen, kam es zu einem schreckerregenden Ausbruch der Kleinen. Es war wie bei gewissen wölfischen Tieren, die Sang und Klang mit dem gequälten Heulen ihrer nächtigen Seelen beantworten. Denn allem Elementarwesen liegt die sehnsüchtige Todesfurcht vor Maß und Ordnung zugrunde, wie sie auch der Wohllaut verkörpert. Sato hörte eine Weile mit aufgerissenen Augen dem Klavierspiel Gonzagues zu. Man sah, daß sie sich mit aller Kraft beherrschte. Sie warf ihren Körper gepeinigt hin und her. Sie krallte sich verzweifelt an Iskuhi fest. Dann fuhr es jäh aus ihr hervor. Und es war wirklich ein Geheul wie von Schakalen und Hyänen, das sie mit weitgeöffnetem Munde ausstieß, während die aufgerufene innere Macht sie sichtbar schüttelte. Alle fuhren zusammen. Nicht einmal die großen Kindertränen, die über des Mädchens Wangen liefen, konnten den Ekel und das Grauen in allen Herzen versöhnen. Auf einen Wink Gabriels packte Awakian Sato bei der Hand und führte sie aus dem Zimmer. Gonzague aber mußte sehr laut auf die Tasten hämmern, damit man das klägliche Winseln des gebannten Kobolds draußen vor den Gartenfenstern nicht höre.

      In dieser Nacht ging, wie man schon weiß, kein einziger der Hausgenossen zu Bette. Sie schlummerten minutenweise auf ihren Sitzen. Die Entsagung hatte nicht den geringsten Sinn, da der Besuch der Saptiehs vor dem Morgen, ja Mittag des kommenden Tages nicht zu erwarten war. Und dennoch dachte niemand daran, sich zurückzuziehen und niederzulegen. Bett, das weiche kissenreiche, das von faltigen Moskitonetzen kühl behütete Bett, diese liebende Mutter, diese СКАЧАТЬ