Nach Gabriel Bagradians Berechnung gab es dreizehn Einfallspunkte, an denen der Damlajik bedroht war. Die offenste Zugangsstelle lag im Norden, wo jener schmale Einschnitt, den Gabriel als Nordsattel bezeichnete, den Berg von den anderen Teilen des Musa Dagh trennt, die in die Richtung von Beilan verlaufen. Der zweite, obwohl schon weniger gefährdete Ort, war der breite Ausstieg der Steineichenschlucht oberhalb Yoghonoluks. Diesem glichen dann die übrigen Gefahrzonen des westlichen Bergrandes im kleineren Maße, und zwar überall dort, wo die steilen Hänge sich sänftigten und Hirten und Herden schmale Naturpfade ausgetreten hatten. Einen Unterschied machte nur der mächtige Felsturm im Süden, die Südbastion der Karte, welche die weiten Steinhalden beherrschte, die aus der Orontes-Ebene in schroffen Stufen und Terrassen zur Höhe stiegen. Unten in der Ebene der Zusammenbruch einer menschlichen Riesenwelt, die römischen Ruinenfelder von Seleucia. Und dieses Steinmeer einer zertrümmerten Gesittung äffte der Berg mit dem Halbrund der gestaffelten Trümmerhalden seiner Südflanke nach. Unter Samuel Awakians Aufsicht wurden nach Bagradians genauer Vorzeichnung nicht nur auf dem Felsturm, sondern auch links und rechts von ihm aus großen Blöcken ein paar ziemlich hohe Mauern errichtet. Der Student wunderte sich, daß man der Deckung wegen so umständliche Wände aufführte. Seine kriegerische Phantasie war in diesen ersten Tagen noch sehr ungelenk und er verstand die Absichten seines Meisters nur selten. Die härteste Arbeit wurde freilich im Norden, an der verwundbarsten Stelle der Verteidigung, gefordert. Gabriel Bagradian hatte den langen Graben eigenhändig abgesteckt, der mit all seinen Ausbuchtungen und Winkelzügen mehrere hundert Schritt maß. Im Westen lehnte er sich an das Felsgewirr der Meerseite, wobei dieses mit seinen Barrikaden, Gängen, Schanzen, Kavernen eine labyrinthische Festung bildete. Im Osten sicherte Bagradian den Graben durch vorgeschobene Wachen und Verhaue. Ein günstiger Umstand war's, daß hier der größte Teil der Bodenfläche aus weichem Erdreich bestand. Dennoch aber stießen die Spaten immer wieder auf große Kalk- und Dolomitsteine, wodurch der Fortschritt des Werkes wesentlich gehemmt wurde, so daß kaum zu hoffen stand, daß man für diesen Graben weniger als vier Arbeitstage brauchen werde. Während muskelstarke Männer und auch einige Bäuerinnen die Erde aushoben, legten die Knaben mit Sicheln und Messern an gewissen Stellen das struppige Unterholz des Vorgeländes um, damit das Schußfeld frei werde. Bagradian rührte sich den ganzen Tag von den Arbeitern nicht fort. Immer wieder lief er in die Kerbung und auf die Gegenhöhe des Sattels, um von den verschiedensten Einsichtspunkten den Graben zu begutachten. Er befahl, daß der Erdaufwurf stets wieder dem Boden angeglichen werde. Sein ganzes Augenmerk war darauf gerichtet, daß die breite Rinne vollständig maskiert sei und daß der dicht bewachsene Hang, den sie entlanglief, nirgends durch Menschenhand verletzt erscheine. Bedenkt man, daß außer dem Reservegraben in der nächsten Bodenwelle noch der Ausbau von zwölf kleineren Stellungen vorgesehen war, so könnte jeden Verständigen Bagradians hartnäckige Einseitigkeit mit Sorge erfüllen.
Pastor Aram Tomasian war auch wegen dieser eigensinnigen Arbeitseinteilung des Befehlshabers ziemlich erbost. Er hatte als Verwalter der inneren Ordnung damit gerechnet, daß auch mit dem Bau der Unterkünfte sogleich begonnen werde. Doch weder der geplante Lazarettschuppen noch auch die Regierungsbaracke, geschweige denn die Errichtung der Reisighütten für das Volk wurden in Angriff genommen. Einzig am Gerüst des Altars in der Mitte der Stadtmulde hämmerten der Kirchendiener, der Totengräber und ein paar fromme Leute bereits herum. Auch der Rahmen für die hohe, aus Buchsbaumzweigicht geflochtene Altarwand stand schon hinter der Gebetstätte. Dem religiösen Gefühl Aram Tomasians hätte es mehr entsprochen, wenn einer der vielen efeuumklammerten Felstische zum Naturaltar erwählt worden wäre. Doch Ter Haigasun schien für dergleichen Romantik nichts übrig zu haben. Der verehelichte Priester, den er mit dem Altarbau betraut hatte, zuckte bei Pastor Arams Anregung nur spöttisch die Achsel. Darauf sagte dieser kein Wort mehr, denn als protestantischer Geistlicher mußte er mit den gregorianischen Amtsbrüdern vorsichtig umgehen. Es war Abend. Gabriel lag erschöpft auf der Erde und starrte das unvollkommene Altargerüst an, das ihm unverhältnismäßig groß vorkam. Da bemerkte er in seinem Halbschlummer, daß auch ihn jemand anstarrte. Sarkis Kilikian, der Deserteur! Der Mann konnte jünger sein als Gabriel, vielleicht war er kaum dreißig Jahre alt. Und doch hatte er die scharfen verfallenen Züge eines verbrauchten Fünfzigjährigen. Fest und dünn spannte sich die trotz aller Sonnenglut bleiche Gesichtshaut um einen höhnischen Totenkopf. Weniger vom Leiden erschienen seine Züge so ausgehöhlt als von einem fanatisch gelebten Leben. Satt, übersatt vom Leben, dies war das Wort. Obgleich seine Uniform ebenso zerfetzt war wie die der anderen Deserteure, machte er den Eindruck von verwilderter Eleganz oder eleganter Verwilderung. Das kam hauptsächlich daher, weil er als einziger seiner Spießgesellen glatt barbiert war, und zwar frisch und sauber. Gabriel fühlte es kalt werden und setzte sich auf. Er reichte dem Kerl eine Zigarette hin. Kilikian nahm sie wortlos, zog irgendeine barbarische Feuervorrichtung aus der Tasche, schlug Funken, die nach vielen vergeblichen Versuchen endlich einen Wergstreifen in Brand setzten, und begann so blasiert zu rauchen, als sei die kostbare Marke Bagradians sein alltäglicher Tabak. Jetzt schwiegen beide sich an, Gabriel mit wachsendem Unbehagen. Der Russe wandte seinen toten und doch verächtlichen Blick nicht von Bagradians weißen Händen, bis dieser es nicht länger aushielt und ihn anherrschte:
»Nun, was willst du von mir?«
Sarkis Kilikian stieß einen starken Rauchstrahl aus, veränderte aber seine Miene um keinen Schatten. Das Lästigste war, daß er noch immer nicht die Augen von Gabriels Händen abwandte. Er schien sich in tiefsinnige Betrachtungen über eine Welt zu verlieren, in der es so weiche und unversehrte Hände gab. Endlich öffnete er den lippenlosen Mund über schlechten, schwärzlichen Zähnen. Seine tiefe Stimme klang weniger haßerfüllt als seine Worte:
»Keine Sache für so feine Herren ...«
Bagradian sprang auf. Er wollte eine starke Antwort finden. Zu seinem tiefen Unbehagen fand er aber überhaupt keine. Ihm langsam den Rücken kehrend, sprach der Russe mehr zu sich selbst, in keinem übelklingenden Französisch:
»On verra ce qu'on pourra durer.«
Als man dann um die Lagerfeuer saß, erkundigte sich Gabriel bei den verschiedensten Männern nach Sarkis Kilikian. Dieser war seit vier Monaten schon im ganzen Umkreis des Musa Dagh wohlbekannt. Er gehörte nicht zu den ortsansässigen Deserteuren, und doch machten die Saptiehs auf ihn namentlich Jagd. Von Schatakhian erfuhr Gabriel die Lebensgeschichte des Russen im Zusammenhang. Da die Lehrerschaft der sieben Dörfer sich im allgemeinen durch eine lebhafte Phantasie auszeichnete, so hätte Bagradian fast geargwöhnt, für Schatakhian sei des Grauens nicht genug und er füge diesem echt armenischen Schicksal noch aus freier Willkür einige Schreckenszüge bei. Aber Tschausch Nurhan saß daneben und nickte ernsthaft zustimmend zu jeder Einzelheit. Tschausch Nurhan war als Gönner der Deserteure und als Kenner ihrer Lebenswege verschrien. Was aber die Phantasie anbelangt, hatte man bei ihm nichts zu argwöhnen.
Sarkis Kilikian war in Dört Yol, einem großen Dorfe in der Issusebene nördlich von Alexandrette, geboren. Ehe er noch sein elftes Lebensjahr vollendet hatte, brachen in Anatolien und Zilizien die klassischen Metzeleien Abdul Hamids aus, und zwar wie ein wolkenloses Gewitter von einem Augenblick zum andern. Kilikians Vater war Uhrmacher und Goldschmied, ein kleiner, stiller Mann, der in seinen Verhältnissen auf feine Lebensart und gute Erziehung der fünf Kinder viel Wert legte. Da er ein hübsches Vermögen besaß, sollte Sarkis, der Älteste, an eines der Priesterseminare gesandt werden, um zu studieren. An jenem schwarzen Tage von Dört Yol sperrte Uhrmacher Kilikian seinen Laden schon um die Mittagsstunde. Dies aber half ihm nichts, denn kaum hatte er sich in seine Wohnung zur Mahlzeit begeben, war die wüste Kundschaft schon da und begehrte Einlaß. Frau Kilikian, eine große, blonde Armenierin aus dem Kaukasus, hatte das Essen bereits aufgetragen, als sich der kreidebleiche Mann erhob, um die Ladentür wieder zu öffnen. Der Uhrmacher beruhigte seine Frau mit den Worten, es sei am besten, den Laden der Plünderung zu überlassen, um das eigene Leben zu retten. Die Ewigkeiten СКАЧАТЬ