Marcel Proust: Gesammelte Romane & Erzählungen. Marcel Proust
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Название: Marcel Proust: Gesammelte Romane & Erzählungen

Автор: Marcel Proust

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9788027208821

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СКАЧАТЬ im Zimmer schräg stehen geblieben war (eh der nicht fort war, fühlte ich, würde es für mich keine Entspannung geben). Immer wieder hob ich meine Blicke – welchen die Gegenstände in meinem Pariser Zimmer nicht mehr im Wege standen als meine eigenen Augäpfel, sie waren ja nur Zubehör meiner Organe, Erweiterungen meines eigenen Wesens – zu dem überhöhten Plafond dieses Aussichtsturmes im Dachstuhl, den die Großmutter für mich gewählt hatte. Und bis in eine Gegend, die tiefer liegt, als Hören und Sehen reicht, die Gegend, in der wir die Eigenart der Gerüche erleben, ja fast ins Innerste meines Ich drang der Duft des Vetiver und griff meine letzten Verschanzungen an: mühsam und, ohne auszusetzen, stellte ich ihm als nutzlosen Schutz, ein geängstetes Schnüffeln entgegen. Was ich an Weltall, Zimmer, Körper besaß, war rings von Feinden bedroht, bis in die Knochen drang mir das Fieber, ich war allein, ich hatte Lust zu sterben. Da trat meine Großmutter ein, und dem bedrängten Herzen öffneten alsbald sich weite Räume, in die es sich dehnen konnte.

      Sie trug einen Schlafrock aus Perkal, den sie zu Hause jedesmal anzog, wenn einer von uns krank war (sie fühle sich darin behaglicher, sagte sie; allem, was sie tat, schrieb sie ja immer selbstsüchtige Beweggründe zu), das war, um uns zu pflegen, ihr Dienerinnen- und Wärterinnenkittel, ihre Nonnenkutte. Aber während bei andern Pflegerinnen Sorgfalt, Güte, Tüchtigkeit, die man anerkennt, und Dankbarkeit, die man ihnen schuldet, den Eindruck verstärken, für sie ein anderer, allein zu sein und selbst die Last seiner Gedanken und seines Lebenswillens tragen zu müssen, wußte ich, wenn ich bei meiner Großmutter war und schwerster Kummer bedrückte mich, daß Mitleid, welches weiter reichte als er, ihn aufnahm; alles, was mein war, Sorgen und Begehren konnten sich bei der Großmutter einem Willen, mein Leben zu erhalten und zu steigern, anschmiegen, der stärker war als mein eigener Wille; meine Gedanken dehnten sich in ihr aus, ohne von ihrer Richtung abgelenkt zu werden; von meinem Geist drangen sie in ihren, ohne Umwelt und Person zu wechseln. Und – wie einer vor dem Spiegel seine Krawatte binden will und nicht begreift, daß der Zipfel, den er im Spiegel sieht, nicht auf der Seite ist, nach der er faßt, oder wie ein Hund auf dem Boden den tanzenden Schatten eines Insekts verfolgt – so ließ ich mich durch den körperlichen Schein dieser Welt, in der wir die Seelen nicht direkt wahrnehmen, täuschen, warf mich meiner Großmutter in die Arme und drückte meine Lippen auf ihr Gesicht, als käme ich so an das große Herz, das sie mir auftat. Den Mund an ihre Wangen, ihre Stirn gepreßt, schöpfte ich aus ihr etwas so Wohltuendes und Nahrhaftes, daß ich unbeweglich, ernst und stillgierig blieb wie ein saugendes Kind.

      Ich wurde nicht müde, ihr großes Gesicht anzusehen, das sich abhob wie eine schöne sanftglühende Wolke: man fühlte strahlende Zärtlichkeit dahinter. Und alles, was auch nur im schwächsten Maße etwas von ihrem Empfinden abbekam, alles, was man ihr dann noch sagen konnte, wurde alsbald vergeistigt, geheiligt: meine Hände glätteten ihre kaum ergrauten Haare so ehrfürchtig, vorsichtig, sanft, als streichelte ich ihre Güte selbst. Für sie war jede Mühe, die mir Mühe sparte, Lust, und jeder Augenblick, in dem meine ermatteten Glieder unbewegt ruhen durften, köstlich: als ich jetzt sah, sie wolle mir beim Zubettgehen und Stiefelausziehen helfen, eine abwehrende Geste machte und anfangen wollte, mich selbst auszuziehen, hemmte ihr bittender Blick meine Hände, die schon nach den Knöpfen an Rock und Schuhen langten.

      »Bitte laß mich«, sagte sie. »Es macht deiner Großmutter solche Freude. Und denk daran, an die Wand zu klopfen, wenn du nachts etwas brauchst, mein Bett steht dicht an deinem, die Zwischenwand ist ganz dünn. Tu es nachher, wenn du liegst, wir wollen sehen, ob wir uns gut verständigen können.«

      So klopfte ich denn dreimal an diesem Abend – und eine Woche später, als ich leidend war, klopfte ich ein paar Tage jeden Morgen, weil meine Großmutter mir in der Frühe Milch bringen wollte. Wenn ich zu hören glaubte, daß sie wach sei, riskierte ich – damit sie nicht warte und nachher wieder einschlafen könne – drei kleine Schläge, schüchtern, schwach und doch deutlich. Mußte ich fürchten, ihren Schlaf zu unterbrechen, falls ich mich getäuscht hätte und sie noch schliefe, so sollte sie doch auch nicht unausgesetzt auf ein Klopfen lauschen, sie konnte es überhören, wenn es zu leise ausfiel, und nachher würde ich nicht wieder zu klopfen wagen. Kaum hatte ich meine drei Mal geklopft, so hörte ich von drüben dreimal klopfen, in anderem Tonfall, ruhig und überlegen, dreimal drei Schläge, die deutlich sagten: ›Reg dich nicht auf. Ich hab gehört. Gleich bin ich da.‹ Und bald danach kam meine Großmutter. Ich sagte ihr, ich habe Angst gehabt, sie würde mich nicht hören oder meinen, ein anderer Nachbar habe geklopft, da lachte sie:

      »Ich soll nicht unterscheiden, ob mein armes Bübchen klopft oder sonst wer? Unter tausend würde deine Großmutter dich herauserkennen! Glaubst du denn, daß irgendjemand auf der Welt so dummlich, so verfiebert klopft, so zwischen zwei Ängsten: mich aufzuwecken oder nicht gehört zu werden. Ach, wenn es auch nur ein bißchen kratzt, erkennt man doch gleich sein Mäuschen, besonders wenn' s ein so einziges ist, wie meins, das soviel Kummer hat. Schon eine ganze Weile hab ich gehört, wie es gezaudert, sich im Bett herumgedreht und was es alles getrieben hat.«

      Sie zog die Jalousien etwas in die Höhe: auf dem Dach des vorspringenden Hotelanbaus hatte die Sonne sich schon niedergelassen wie ein Dachdecker, der früh seine Arbeit beginnt und in aller Stille vollendet, um die Stadt, die noch schläft, nicht aufzuwecken, und ihre Regungslosigkeit läßt ihn noch reger erscheinen. Sie sagte mir, wie spät und was für Wetter es sei, – ich solle gar nicht erst ans Fenster kommen, auf dem Meer liege Nebel –, ob der Bäcker schon aufgemacht habe, was für ein Wagen das sei, den man höre: das ganze unwichtige Vorspiel, die belanglose Introduktion des Tages, der niemand beiwohnt, ein Stückchen Leben, das nur uns beiden gehörte – im Lauf des Tages kam ich dann allerdings vor Françoise und andern darauf zurück und sprach vom Nebel heut früh um sechs, der zum Zerschneiden war, aber nicht, um mit Wissen zu prahlen, nur um an ein Liebeszeichen zu denken, das mir allein zugekommen war. Süße Morgenstunde, die wie eine Sinfonie anhob mit einem rhythmischen Dialog: erst meine drei Schläge und dann durch die von zärtlicher Freude schwingende, körperlos und klingend gewordene, wie Engel singende Zwischenwand die Antwort, drei Schläge, glühend erwartet, zweimal wiederholt, welche heiter verkündend und treu und harmonisch die ganze Seele meiner Großmutter herübertrugen mit dem Versprechen: sie kommt.

      Als mich aber in der ersten Nacht nach meiner Ankunft die Großmutter verlassen hatte, fing ich wieder zu leiden an, wie ich schon in Paris beim Fortgehen aus dem Hause gelitten hatte. Das Entsetzen, in einem unbekannten Zimmer zu schlafen – ich teile es mit vielen – ist vielleicht nur die einfachste, undeutlichste, organischste, fast unbewußte Form des verzweifelten Widerstandes, mit dem sich die Dinge, die den besten Teil unseres gegenwärtigen Lebens bilden, dagegen sträuben, daß wir das Formular einer Zukunft, in der sie nicht vorkommen, im Geiste mit unserm Akzept versehen. Solch ein Widerstand lag zugrunde, wenn ich erschrak bei dem Gedanken, meine Eltern würden einmal sterben, ich könnte gezwungen werden, fern von Gilberte zu leben oder auch nur, mich endgültig in einem Lande niederzulassen, wo ich nie meine Freunde wiedersehen würde; derselbe Widerstand lag zugrunde, wenn es mir schwer wurde, an meinen eigenen Tod zu denken oder an ein Leben nach dem Tode, wie es Bergotte den Menschen in seinen Büchern versprach; denn dahin würde ich meine Erinnerungen, meine Fehler, meinen Charakter, die auf ihr Dasein nicht verzichten konnten und mir weder das Nichts noch die Ewigkeit ohne sich gönnten, nicht mitnehmen können.

       In Paris hatte Swann mir einmal, als ich besonders leidend war, gesagt: »Sie müßten nach den herrlichen polynesischen Inseln reisen; dann würden Sie überhaupt nicht wiederkommen.« Gern hätte ich geantwortet: »Aber dann sehe ich doch Ihre Tochter nicht wieder, lebe unter Dingen und Menschen, die sie nie gesehen hat.« Allein meine Vernunft sagte mir: ›Was macht das aus, da du nicht traurig darüber sein wirst? Wenn Herr Swann dir sagt, du wirst nicht wiederkommen, so meint er damit, du wirst nicht wiederkommen wollen, und daß du nicht willst, bedeutet, du wirst glücklich da unten sein.‹ Was Gewohnheit vermag, wußte meine Vernunft: sie – die jetzt die Aufgabe übernehmen sollte, mich die unbekannte Behausung lieben zu lehren, mich darauf zu bringen, den Spiegel umzustellen, die Vorhänge zu ändern, die Uhr anzuhalten –, befaßt sich auch damit, Leute unserer Umgebung, die wir nicht leiden konnten, uns lieb zu machen, Gesichtern ein anderes Aussehen, СКАЧАТЬ