Название: Damals bei uns daheim
Автор: Hans Fallada
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Hans-Fallada-Reihe
isbn: 9783961188840
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»Und das nennen Sie Gift –?! Gift nenne ich, was einen wie ein Blitz zu Boden schlägt! Dann ist Rizinus auch Gift! Von Rizinus kriege ich genau solche Bauchschmerzen!«
(Dass sie es – zu allem andern – nun auch fertigbrachte, von Bauch und von Rizinus in Verbindung mit ihrem Bauch zu reden – shocking! Shocking!! Shocking!!!)
Was aber sagte Herr Kammergerichtsrat Elbe zu dieser Frau, zu dieser Unordnung, zu solcher Vermessenheit? Er sagte gar nichts dazu! Ich glaube, er merkte dies alles gar nicht. Er hatte nicht einmal eine Ahnung davon, dass eine Frau anders sein, ein Haushalt anders geführt werden, Kinder anders erzogen werden könnten. An Zerstreutheit und Weltfremdheit übertraf er jeden Professor aus den »Fliegenden« mühelos. Natürlich war er Zivilrechtler, immer über kniffligen Fragen brütend – für einen Strafrechtler lebte er zuwenig auf dieser Welt. Juristerei war ihm etwas Ähnliches wie Geometrie: rechte Winkel, zu konstruierende Dreiecke, das Berechnen von etwas Unbekanntem aus etwas Gegebenem (den Paragraphen).
Oft, wenn wir Jungens ein wildes Spiel vorhatten, tat sich die Tür auf, und Herr Kammergerichtsrat Elbe trat ein. Er war ein kleiner, quittengelber, faltiger Mann mit einem kahlen Schädel, auch bartlos in jener Zeit der ungeheuren Vollbärte. Immer trug er zu Haus einen violetten, recht schäbigen Schlafrock, der ihm mit hundert Falten um die dürren Glieder hing. Meist hatte er Pantoffeln an, oft hatte er sie aber auch vergessen und ging achtlos barfuß.
Die Tür ließ er hinter sich offen und ging, ohne überhaupt zu bemerken, dass außer seinen Jungens auch noch andere anwesend waren, ans Fenster, gegen dessen Scheibe er zu trommeln anfing. Dabei sah er auf ein Blatt Papier, das er in der Hand hielt. Oder er setzte sich ins Sofa und fing an zu lesen. Wir konnten schreien, johlen, über seine Beine fallen, nichts störte ihn. Im Gegenteil: ich glaube, er suchte grade bei seinen Grübeleien die menschliche Nähe, ohne jedoch von ihr irgendeinen sichtbaren Gebrauch zu machen. Zuerst war er uns Jungens unheimlich, später gewöhnten wir uns an ihn und beachteten ihn nicht mehr als einen Stuhl. Nie sprach er mit uns, ich bin überzeugt, nach drei Jahren wusste er immer noch nicht, wer wir waren. Wie dieser Mann dazu gekommen ist, zu heiraten und Kinder zu zeugen, kann ich mir auch in meinen wildesten Phantasien nicht vorstellen.
Ich las damals grade viel im E. T. A. Hoffmann, und all die durch seine Geschichten wimmelnden skurrilen Figuren nahmen für mich Gestalt und Wesen von Kammergerichtsrat Elbe an. Dabei soll er ein vorzüglicher Jurist gewesen sein, von einer unerschöpflichen Belesenheit – freilich ganz von der alten Observanz, für die Recht nichts Lebendiges, sondern eine Art Gedankenakrobatik bedeutete.
Ich erinnere mich besonders eines Osterfestes, bei dem seine Söhne sich den Scherz erlaubt hatten, dem Vater statt seines wegen des kahlen Schädels stets im Hause getragenen Käppis ein mit grüner Holzwolle gefülltes Ostereiernest auf den Kopf zu stülpen. Ich sehe ihn da noch stehen, etwas verwirrt, aber milde verwirrt, in der einen Hand sein gewohntes Käppchen, auf dem sein erstaunter Blick ruht, mit der andern immer wieder vorsichtig das Geflecht auf seinem Kopf betastend, im Zweifel darüber, wieso er jetzt plötzlich zwei Käppchen besaß und wieso das andere sich so ungewohnt anfasste.
Und dieser selbe Mann war es gewesen, der bei Kammergerichtsrat Siedeleben den Trinkgelderteller entleert hatte – nicht aus schnöder Gewinnsucht natürlich, sondern aus reiner Zerstreutheit. Wie nicht anders zu erwarten, war dieser Mann in allem, was Geld anging, ein Kind. Er wusste es weder zu bewahren noch auszugeben, er konnte mit Geld überhaupt nichts anfangen. Jedesmal, wenn er auf das Kammergericht ging, legte ihm seine Frau das Fahrgeld auf die Spiegelkonsole des Flurs. Er war das so gewöhnt, dass er es, ganz ohne darüber nachzudenken, einsteckte.
Dann marschierte er zur Haltestelle der 51. Auf der 51 kannten ihn alle Schaffner und betreuten ihn mit jener gutmütig überlegenen Sorgfalt, die der Berliner für alle hat, denen er sich gewachsen fühlt. Sie nahmen ihm das Fahrgeld aus der Tasche und steckten ihm den Fahrschein dafür hinein. Dann setzten sie ihn an der Ecke der Voßstraße aus dem Wagen, wobei sie darauf achteten, dass er weder Schirm noch Hut, noch Klemmer, noch Aktentasche vergaß, und noch im Wegfahren schauten sie ihm väterlich besorgt nach, ob er nun auch wirklich keine Dummheiten machte, sondern artig in die Voßstraße einbog.
In jener Nacht des Streits und Unheils nun hatte seine Frau ihm fünf Mark in die Hand gedrückt und ihm zugeflüstert, das Geld auf den Trinkgeldteller zu legen. Da Herr Kammergerichtsrat Elbe bereits viele Male einen solchen Auftrag fehlerlos erledigt hatte, sah sie ihm nicht nach, wie es die menschenkundigen Schaffner auf der Elektrischen taten, sondern ließ sich, auf das Freiwerden eines Spiegels wartend, in ein Gespräch ein.
Kammergerichtsrat Elbe seinerseits fand sich, ehe er zwei Schritte getan hatte, seinem Präsidenten gegenüber, der ihn ernst ermahnte, nach einem Aktenfaszikel, der unzweifelhaft in seinem Besitz sich befinden musste, genaue Ausschau zu halten. Wieder frei geworden, fand er sich auf dem Flur, einem Teller gegenüber, der mit Silber gefüllt war. Während seine Gedanken bei dem vermissten Akt weilten, den gelesen zu haben er sich wohl erinnerte, gelang ihm, was keinem noch so geschickten Dieb unter so vielen Augen gelungen wäre: er entleerte den Teller in seine Tasche, rasch und lautlos wie ein Traumwandler. Es war eine rein mechanische Handlung, ohne wesentlichen Anteil des Hirns – dieses Geld auf dem Flur hatte ihn dämmerhaft an anderes Geld auf einem andern Flur erinnert, das er in seine Tasche zu tun hatte. So tat er’s.
Es war am Tage nach jenem Diner, dass Kammergerichtsrat Elbe verloren zu seiner Frau sagte: »Ich weiß nicht, meine Hosen sind so schwer …«
»Schwer?« fragte sie. »Wie können sie schwer sein? Was wirst du wieder hineingesteckt haben? Neulich hattest du im Mantel deinen Briefbeschwerer!«
»Den Briefbeschwerer –? Nein, der ist es nicht«, sagte er und steckte die Hand in die Tasche. Er brachte sie mit Münzen gefüllt hervor. »Es scheint Geld zu sein«, sagte er.
»Geld? Wie kommst du zu Geld?! Bist du bei meinem Geld gewesen?«
»Soviel ich weiß, nein. Das heißt, genau gesagt, ich erinnere mich dessen nicht, falls ich es gewesen sein sollte. Immerhin könnte es möglich sein …«
»Lass einmal sehen!« Sie entleerte seine Taschen. »Es sind über hundert Mark. Nein, das kann nicht Geld von mir sein. Wie kommst du zu dem Geld, Franz, denke bitte nach.«
Er rieb sich verlegen mit zwei Fingern das Kinn.
»Ich fürchte, auch ein intensives Nachdenken von mir führt nicht zum Ziel. Im Gegenteil glaube ich mich zu entsinnen, schon seit einem längeren Zeitraum nicht mit Geld in Berührung gekommen zu sein.« Er setzte nach einigem Nachdenken hinzu: »Um genau zu sein: außer mit meinem Fahrgeld.«
»Mit welchem Fahrgeld?«
»Mit dem Fahrgeld zum Gericht.«
»Das Fahrgeld sind zwanzig Pfennig, und dies sind über hundert Mark. Das ist ein ungeheurer Unterschied!«
»Ich sehe es ein, Liebe«, sagte er kummervoll. »Es war mir ja selbst aufgefallen, wie schwer meine Taschen waren. Beim Fahrgeld habe ich so etwas noch nie beobachtet.«
»Hast du auf dem Gericht etwas ausbezahlt bekommen? Hast du der Juristischen Wochenschrift vielleicht einen Artikel geliefert? Bist du auf der Treppe dem Geldbriefträger begegnet? Hast du von einem Kollegen Geld bekommen?«
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