»Ich führte den Wendelin in eine abgelegene Kammer und sagte zu ihm: ›Bitte!‹ Dann schloß ich die Türe. Ich war noch nicht fünf Schritte weit gegangen, als ich einen Schuß hörte. Nun wurde mir doch ungemütlich zumute. Ich kehrte zurück, öffnete die Türe: Witschi stand in der Mitte des Zimmers. Ein alter Spiegel, der an der Wand hing, hatte daran glauben müssen… Aber Witschi hatte sich geschont. Merkwürdig scheint mir nur, daß er dann zwei Tage später im Walde erschossen aufgefunden worden ist. Ich kann da keine Meinung äußern…«
Die Tür ging auf. Zwei Frauen traten ein. Frau Murmann, groß, mütterlich, schützend, führte Sonja ins Zimmer.
Studer sah die beiden Frauen an. Er nickte.
»Danke, Frau Murmann«, sagte er. »Ist's ohne Aufsehen gegangen?«
»Wohl, wohl«, antwortete die Frau. »Ich hab' sie vor dem Bahnhof erwartet, und sie ist ganz willig mitgekommen.«
»Wir fahren zusammen nach Thun, Meitschi, wir gehen den Schlumpf besuchen. Ist's dir so recht? Ich hab' nur nicht wollen, daß die Mutter etwas davon erfährt, drum hab' ich die Frau vom Landjäger geschickt, damit sie dir's sagt. Verstehst? Es ist weiter nicht gefährlich…«
»Jawohl, Herr Wachtmeister.« Sonja nickte eifrig.
»Aber die Leute hier brauchen uns nicht zu sehen«, fuhr Studer fort. »Murmann leiht mir sein Motorrad, er wird vorausfahren und auf uns warten. Du kannst auf dem Soziussitz hocken, um neun Uhr sind wir in Thun. Vorher hat's keinen Zweck. Geh' jetzt mit der Frau Murmann. Ich muß noch arbeiten. Ich sag' dir dann, wann wir gehen. Du gehst voraus, und wir treffen uns. Verstehst?«
Sonja nickte schweigend.
»Komm, Meitschi«, sagte Frau Murmann.
Aber Sonja zögerte noch. Endlich stotterte sie (und Studer merkte, daß ihr das Schluchzen zuoberst in der Kehle saß):
Ob der Wachtmeister nicht wisse, wo der Armin hin sei?
»So? Ist er nicht daheim?«
– Nein, er sei verschwunden, seit… ja seit er damals vom Tisch aufgestanden sei; aber die Mutter habe gar keine Sorge gezeigt, sie sei heut' morgen wieder zum Kiosk… Was der Wachtmeister meine?
Der Wachtmeister schien gar nichts zu meinen, denn er schwieg. Er hatte etwas Derartiges erwartet. Die ganze Nacht hatte er in Witschis Garten verbracht, versteckt hinter einem großen Haselbusch und hatte den Schuppen nicht aus den Augen gelassen. Bevor er die Wache angetreten hatte, war er noch in den Schuppen gegangen. Die Tür mit den Spuren von Witschis Schießversuchen (eigentlich, hatte er gedacht, ist es noch gar nicht bewiesen, daß Witschi sich geübt hat) stand noch an der gleichen Stelle, und während der ganzen Nacht hatte niemand versucht, sie zu holen. Witschis Haus blieb still und dunkel, die alte Frau Anastasia war um zehn Uhr heimgekommen. Eine Stunde lang hatte Licht in der Küche gebrannt. Dann war das Haus dunkel geblieben bis zum Morgen. Studer war sicher, daß Frau Witschi wußte, wohin ihr Sohn gegangen war. Er tauchte sicher auf, wenn die Luft wieder rein war.
Aber was hatte ihn vertrieben, den Armin Witschi, den Maquereau? Etwa Schreiers, des Handharfenspielers, laut gesprochene Worte: »So, so, hat das Schlumpfli gestanden?«
War etwa das Geständnis Schlumpfs nicht im Programm vorgesehen gewesen?
Wie leicht hätte Studer den Aufenthaltsort des Armin erfahren können! Aber er wollte ihn vorläufig gar nicht wissen. Heut' am Morgen, beim Frühstück, hatte die Bertha, die Saaltochter, verweinte Augen gehabt. Sie hatte hin und wieder trocken aufgeschnupft und Studer hatte sich treuherzig erkundigt, was denn los sei?
– Gar nüd sei los, hatte die Bertha gemeint.
Da hatte Studer sich nicht beherrschen können und im gleichen treuherzigen Ton weitergefragt:
– Wieviel Geld sie denn dem Armin habe geben müssen?
– Fünfhundert Franken, ihr ganzes Erspartes! Aber der Wachtmeister müsse das für sich behalten, ja nicht weiter sagen! Sobald die Versicherungen ausbezahlt seien, werde der Armin sie heiraten, das habe er ihr versprochen, ja, geschworen habe er es ihr. Sie wisse nicht, warum sie das jetzt dem Wachtmeister erzählt habe, sie hätte nichts sagen sollen, der Armin habe ihr das Versprechen abgenommen… und weiter in dem Ton. Studer hatte dem Mädchen beruhigend die Hand getätschelt. Diese Saaltochter! Sie war nicht mehr jung, immer mußte sie freundlich sein mit den Gästen, mußte klobige Witze anhören, sich handgreifliche Zärtlichkeiten gefallen lassen… Und dann kam einer, wie der Armin Witschi… Er war freundlich, rücksichtsvoll, unglücklich, er war ein Studierter… Was Wunder, daß das Mädchen sich in ihn verliebte? Vielleicht war der Armin gar kein schlechter Kerl. Man müßte mit dem Burschen einmal reden, hatte Studer gedacht und in sich hineingelächelt: Wachtmeister Studer als Heiratsvermittler!…
Sonja wartete auf eine Antwort. Sie blickte erwartungsvoll auf Studer.
»Der Armin wird schon wieder kommen«, sagte er. »Geh' jetzt mit der Frau Murmann. In einer Stunde fahren wir.«
Und Sonja ging.
Studer setzte sich an den Schreibtisch. Er nahm ein Folioblatt, legte es vor sich hin und schrieb ganz oben, in die Mitte des Bogens, das Wort:
BILANZ
Dann begann er nachzudenken. Aber auch hier sollte er nicht weiterkommen. Eine der Haupteigenschaften des Falles Witschi schien die zu sein, daß es unmöglich war, irgendeinen Teil zu einem Abschluß zu bringen. Hatte er nicht zum Beispiel gestern das Verhalten Ellenbergers und des Gemeindepräsidenten beim ›Zuger‹ beobachten wollen? Was war dazwischen gekommen? Natürlich ein Telephon, dann die Entdeckung Schreiers…
Und jetzt meldete sich selbstverständlich das Schrillen der Telephonklingel. Studer hob den Hörer ab, sagte, wie er es in seinem Bureau in Bern gewohnt war:
»Ja?«
»Bist du's, Studer?« fragte eine Stimme. Es war der Polizeihauptmann.
»Ja«, sagte Studer. »Was ist los?«
»Also paß auf. Der Reinhardt hat heut' morgen die Waffengeschäfte abgeklopft. Gleich beim ersten hat er Glück gehabt. Der Besitzer war schon im Laden, und er hat sich gut erinnert, daß er vor vierzehn Tagen einen Browning verkauft hat. Marke stimmt, Nummer stimmt. Er erinnert sich auch an den Mann, der ihn gekauft hat…«
»Und?« fragte Studer, da der Hauptmann schwieg.
»Bist ungeduldig? Keine Aufregung, Studer. Du blamierst dich ja doch wieder… Hä?… Du bist so still, Studer. Also, der Reinhardt hat mir erzählt, der Waffenhändler erinnere sich noch gut an den Käufer. Es war ein alter Mann, dem alle Zähne gefehlt haben, er hat ein halbleiniges Kleid getragen. Dem Verkäufer ist noch aufgefallen, daß der Mann braune moderne Halbschuhe getragen hat und schwarze seidene Socken. Er hat keinen Namen angegeben…«
»Das ist auch nicht nötig gewesen.« Studer sprach stockend. Es war einerseits schwierig, diese Neuigkeit zu verdauen, andererseits hatte man etwas Ähnliches erwartet…
»Du, paß gut auf«, sagte Studer. »Ich schick' dir einen Browning, ich geb' ihn СКАЧАТЬ