»Ah, jetzt wird mein Mann sicherlich ein paar Minuten Zeit für mich haben.«
»Für seine charmante Frau wird er immer Zeit haben.«
Nicole verabschiedete sich herzlich von ihrem ehemaligen Brötchengeber mit dem Versprechen, bald wieder einmal vorbeizukommen.
Beinahe wäre sie mit dem Mann, der aus Thomas’ Büro kam, zusammengestoßen. Er entschuldige sich höflich, und dann erst sah Nicole ihn richtig an. Sie zuckte zusammen – das war eindeutig Joachim Kaiser!
Was in aller Welt trieb ihn in diese Anwaltskanzlei? Nicole fühlte sich plötzlich gar nicht mehr wohl in ihrer Haut. Hatte Kaiser mitbekommen, daß sie heimlich vor dem Haus herumgelungert hatte und dies Thomas nun mitgeteilt?
Der Mann war schon verschwunden, als Nicole immer noch wie betäubt dastand.
»Sie können jetzt zu Ihrem Mann«, sagte Lena Schamlott freundlich. »Lassen Sie sich ruhig Zeit, der nächste Termin ist erst in einer halben Stunde.«
Zögernd öffnete Nicole die Bürotür. Thomas saß hinter seinem Schreibtisch und notierte etwas in einer Akte. Als er Nicole sah, erhellte sich sein Gesicht. »Liebling, schön, daß du gewartet hast!«
Erleichtert trat sie zu ihrem Mann und gab ihm einen Kuß. Thomas schien nicht zu wissen, wer
Joachim Kaiser war. Sie zeigte ihm das Foto, und Thomas besah es sich stirnrunzelnd von allen Seiten. »Ich kann überhaupt nichts erkennen.«
»Na, ein bißchen Phantasie mußt du schon haben«, sagte Nicole glücklich und zeigte auf die kleinen Gliedmaßen…
*
Das zufällige Zusammentreffen mit Joachim Kaiser ging Nicole den ganzen Tag über nicht aus dem Sinn, doch sie wollte sich unter keinen Umständen verdächtig machen und Thomas nach ihm fragen.
Beim Abendessen sprachen sie wieder von dem Baby und Nicoles Besuch beim Arzt.
»Dr. Lorenz sagt, daß der Geburtstermin ungefähr Ende September sein wird und nichts dagegen spricht, zu Ostern nach Mallorca zu fliegen. Im Gegenteil, er meint, die milde Meeresluft wird mir guttun.«
»Na, da werden sich meine Eltern aber freuen. Sie hatten schon befürchtet, daß wir nicht kommen werden.«
»Ach, deine Eltern sind wirklich goldig. Ich freue mich schon, sie wiederzusehen.«
»Tja, ich bin eben ein Glückskind«, sagte Thomas strahlend, doch dann verfinsterte sich seine Miene schlagartig. »Es gibt allerdings auch Eltern, denen völlig egal ist, was mit ihrem Kind geschieht.«
Nicole hielt die Luft an. Wollte Rainer darauf anspielen, daß sie seinerzeit ihr Kind weggegeben hatte?
Doch da redete er schon weiter: »Heute war ein Klient bei mir, über den ich noch jetzt wütend bin. Er und seine Frau haben Anfang des letzten Jahres einen kleinen Jungen adoptiert, weil die Frau keine Kinder bekommen kann und ein Kind für das Paar eine Art Statussymbol sein sollte. Nun wollen sie sich aber scheiden lassen, beide wollten ihre Freiheit wiederhaben und keiner möchte den Jungen zu sich nehmen.«
Nicole saß da wie zur Salzsäule erstarrt. Sie wagte nicht, Thomas in die Augen zu sehen, doch das bemerkte er gar nicht. Er warf seine Serviette auf den Teller und fragte: »Und weißt du, was jetzt mit dem armen Kind passiert? Es kommt ins Waisenhaus!«
Zum Glück war Sina schon vorher aufgestanden, um vorm Schlafengehen noch eine Märchenkassette zu hören.
»Wie… hieß der Mann?« Nicole hatte kaum ihre Stimme unter Kontrolle.
»Kaiser, Joachim Kaiser. Wieso, kennst du den Mann etwa?« fragte Thomas.
»Er kam gerade aus deinem Büro, als ich dich heute vormittag besuchte.«
Thomas’ Blick war ein einziges Fragezeichen – und dann beichtete Nicole alles. Sie erzählte von ihrem Besuch bei der Detektei, die heimlichen Fahrten in die Nachbarstadt und die Hoffnung, ihren kleinen Sohn einmal zu Gesicht zu bekommen. Als sie geendet hatte, lehnte sie sich erschöpft zurück.
Thomas hatte schweigend zugehört; jetzt saß er da und starrte auf seinen Teller. Er sagte kein Wort, und Nicole hatte schreckliche Angst, daß Thomas wegen dieses Vertrauenbruchs böse auf sie wäre.
Doch statt dessen fragte er nach einer Ewigkeit: »Bist du ganz sicher, daß diese Kaisers die Adoptiveltern deines Jungen sind?«
Stumm nickte Nicole. Was hatte Thomas vor? Er saß weiterhin da und brütete vor sich hin. Sie wagte nicht, sich zu bewegen. Würde Rainer ihr diesen schweren Treuebruch jemals verzeihen können?
Sie knüllte ihre Serviette zu einem unansehnlichen Knäuel und wartete atemlos auf eine Reaktion ihres Mannes. Irgendwann hielt sie die erdrückende Stille, die nur vom Ticken der antiken Kaminuhr unterbrochen wurde, nicht mehr aus. »Thomas, bitte, sag doch etwas…«
Thomas fuhr wie aus einer Trance erwacht hoch. »Entschuldige bitte, ich habe nachgedacht.«
Doch nicht etwa darüber, sich von ihr zu trennen? Sie hätte es sogar verstanden, wenn ihr Mann sie nach dieser Enttäuschung verlassen würde. Ihr Herz schrie auf vor Schmerz – wie sollte sie ohne Thomas und Sina leben?
»Ich werde mir morgen beim hiesigen Jugendamt alle Unterlagen besorgen. Wenn Tim wirklich dein Sohn ist, dann können wir ihn zu uns nehmen.«
Was hatte er da gesagt? Wir werden Tim zu uns nehmen? »Heißt das, ich… wir… können den Jungen bekommen – und du bist mir nicht mehr böse, daß ich dich hintergangen habe?«
Thomas schmunzelte. »Ich kann dich gut verstehen, Liebling. Kein Wunder, daß du heimlich Nachforschungen angestellt hast, nachdem ich so wütend über diese vermeintliche Schnapsidee gewesen bin.«
Nicole war so erleichtert, daß sie aufsprang, um den Tisch lief und Thomas von hinten stürmisch umarmte. »Ich liebe dich – und ich danke dir, daß du mir verzeihst.«
»Ich liebe dich auch, mehr als ich dir sagen kann. Glaubst du nicht, daß ich nicht bemerkt habe, wie du darunter leidest, deinen kleinen Sohn verloren zu haben? So, und jetzt setz dich hin, dann können wir in aller Ruhe alle weiteren Einzelheiten besprechen. Wie hieß die Frau vom Jugendamt, bei der du nach der Adoption warst?«
»Frau Becker!« kam es wie aus der Pistole geschossen. Nicole hatte die ganzen langen Monate keinen Namen, kein Detail vergessen. Alles, was mit Tim zusammenhing, schien in ihrem Gehirn eingebrannt zu sein.
Thomas stand auf, ging in sein Arbeitszimmer und kam kurze Zeit später mit einem Notizblick zurück.
»Glaubst du, daß wir Tim tatsächlich bekommen werden?«
»Keine Frage. Du als leibliche Mutter hast sozusagen das Vorzugsrecht, ich muß den Kleinen natürlich adoptieren.«
»Willst du das wirklich tun?« Nicole konnte noch immer nicht daran glauben, daß sich das Schicksal zum Guten zu wenden schien.
»Das fragst du noch? Ich СКАЧАТЬ