Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke. Eduard von Keyserling
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Название: Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke

Автор: Eduard von Keyserling

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия: Gesammelte Werke bei Null Papier

isbn: 9783962814601

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СКАЧАТЬ die Heb­am­me. Der Sarg ward ne­ben das of­fe­ne Grab auf den Bo­den ge­stellt. Nicht weit da­von lag der To­ten­grä­ber un­ter ei­nem Ahorn­baum und schlief. Die Leb stieg auf einen Grab­stein, reck­te den Hals und späh­te auf die Land­stra­ße hin­ab.

      »Man muss eben war­ten, da hilft nichts«, be­merk­te Herr Böhk phi­lo­so­phisch.

      Das är­ger­te aber sei­ne Frau. »Na­tür­lich muss man war­ten«, brumm­te sie. »Ich mei­ne nur, wenn man von an­de­ren Pünkt­lich­keit er­war­tet, soll­te man selbst auch pünkt­lich sein.«

      Rosa saß auf ei­nem Stein ne­ben dem Sar­ge ih­res Kin­des. Die­ses arme blaue Käst­chen soll­te nicht so al­lein ne­ben dem of­fe­nen Gra­be ste­hen; sie blieb bei ihm. Am liebs­ten hät­te sie es auf ihre Knie ge­nom­men und ihre Wan­ge dar­auf ge­stützt; da­ge­gen hät­te aber Frau Böhk viel­leicht et­was ein­ge­wen­det. So leg­te denn Rosa nur ihre Hand sanft auf den Sarg­de­ckel.

      Hier, im Schat­ten der al­ten Bäu­me, war es kühl und woh­lig, wie in der Kam­mer, wenn Rosa ne­ben ih­rem Kin­de saß und mit dem Er­len­zweig ihm die Flie­gen ab­wehr­te. Ein lau­er Wind strich zu­wei­len vor­über, ließ die Ro­sen auf den Grä­bern ni­cken und streu­te die Frucht­kap­seln der Bäu­me über den Kies. Frau Böhk hat­te sich ins Gras ge­setzt; sehr rot im Ge­sicht, schalt sie Gre­the, dass sie mit­ge­kom­men sei, statt zu Hau­se fürs Mit­tag­mahl zu sor­gen. Herr Böhk lehn­te an ei­nem Baum­stamm, fä­chel­te sich mit sei­nem Hut Küh­lung zu und schiel­te zu Rosa hin­über. Er fand sie heu­te hübsch mit ih­ren fremd­ar­tig blan­ken Au­gen und über­leg­te bei sich, ob er die letz­ten Tage nicht dazu be­nüt­zen soll­te, dem Fräu­lein recht herz­haft die Cour zu schnei­den. »Jetzt ist er da!« rief die Leb. Ein Wa­gen hielt am Fried­hof­git­ter, dann ka­men zwei Män­ner ei­lig den Weg her­auf. Der Pfar­rer in sei­nem be­staub­ten Talar trock­ne­te sich mit dem Ta­schen­tuch den Schweiß von der blan­ken Glat­ze; der Küs­ter trug ihm ein Buch nach. Rosa blieb, in Ge­dan­ken ver­sun­ken, auf ih­rem Stein sit­zen, bis Frau Böhk sich zu ihr ge­sell­te und wie­der fest ih­ren Arm fass­te.

      Alle um­stan­den die Gruft. Ein Son­nen­strahl fiel hin­ein, und Rosa konn­te den röt­li­chen Bo­den des Gra­bes se­hen. Zu­erst sprach der Pfar­rer mit sei­ner lei­sen, fet­ten Stim­me, dann ward ge­sun­gen; plötz­lich schwieg al­les. Frau Böhk zwang Rosa, sich um­zu­wen­den. Rosa wi­der­streb­te, da sie je­doch nichts aus­rich­te­te, wein­te sie. Hin­ter ihr wur­de et­was halb­laut ge­spro­chen, wur­de et­was ge­ho­ben und ge­scho­ben – jetzt sprach der Pfar­rer wie­der. Rosa schau­te auf das Grab und sah in der Tie­fe, dort, wo der Son­nen­strahl den Licht­fleck auf den Grund des Gra­bes warf, eine Ecke des blau­en Sar­ges und ei­ni­ge wei­ße Nar­zis­sen.

      Nach­dem ein je­der der An­we­sen­den Erde mit der Hand in die Gruft ge­wor­fen hat­te, be­gann der To­ten­grä­ber mit ei­nem Spa­ten das Grab zu­zu­schüt­ten. Rosa hör­te die Erd­schol­len auf den Sarg fal­len, und ein schmerz­haf­ter Zorn schnür­te ihr die Brust zu­sam­men. Gott, die­se grau­sa­men Men­schen! Wie hart und roh sie mit dem ar­men Kin­de ver­fuh­ren! Wie gleich­gül­tig sie al­lem zu­sa­hen! Wenn es auch tot war, so blieb es doch ihr Kind, ge­hör­te ihr. Wie durf­ten sie da­mit ver­fah­ren, als sei es eine Sa­che, die sie nichts an­ging? Aber sie ver­moch­te es nicht zu än­dern, alle wa­ren ge­gen sie. Sie konn­te nur wei­nen. Der Pfar­rer rich­te­te ei­ni­ge Wor­te an Frau Böhk, und die­se er­wi­der­te mun­ter: »Ja, sehr schwül. Heu­te gibt es noch ein Ge­wit­ter.«

      »Höchst wün­schens­wert«, mein­te der Pfar­rer.

      Man ging heim. Rosa ließ sich von der Heb­am­me füh­ren, die ihr Trost zu­sprach. »Gott sei Dank, das Schwers­te ist vor­über! Ich weiß auch, wie’s tut, wenn man eins, das man liebt, in die Erde legt. Aber, ist’s mal vor­über, nach­her kommt man drü­ber hin­aus. So ’n klei­nes Kind ver­schmerzt man leich­ter. Wie­viel hat man’s denn ge­kannt?« Und als Rosa sich nicht be­ru­hi­gen woll­te, mein­te Frau Böhk seuf­zend: »Ja, ja! Bit­ter ist es im­mer­hin, sein ei­gen Fleisch und Blut un­ter der Erde zu wis­sen!« Die­se Wor­te ga­ben Rosa einen kal­ten Schau­er. Un­ter der Erde? Ganz al­lein? Das war ent­setz­lich.

      Zu Hau­se saß Rosa auf dem Sofa im Wohn­zim­mer, sah zu, wie Hans im Hof den großen Hahn neck­te, und hör­te zu, wie die Leb und Herr Böhk mit­ein­an­der strit­ten. Herr Böhk be­haup­te­te, der Pfar­rer sei ein hoch­nä­si­ger Heuch­ler. Die Leb wi­der­sprach dem, sie zog die Mund­win­kel her­ab und sag­te spitz: »Um den Herrn Pfar­rer zu wür­di­gen, muss man Re­li­gi­on ha­ben, und die hat lei­der nicht je­der.«

      Das Mit­tags­mahl war heu­te reich­lich und fei­er­lich, die Un­ter­hal­tung dreh­te sich da­bei nur um Lei­chen­be­gäng­nis­se, und da­von ver­stand die Leb sehr viel. Rosa moch­te we­der es­sen noch spre­chen. Sie lehn­te den Kopf an die Wand und schloss die Au­gen. Wäh­rend sie so ver­harr­te, sah sie be­stän­dig die Ecke des blau­en Sar­ges un­ten im Gra­be, die wei­ßen Nar­zis­sen und den Son­nen­strahl, der dar­über hin­spiel­te, vor sich, und die­ses Bild er­reg­te in ihr das Ge­fühl tiefs­ter Ein­sam­keit. Sie be­gann sich um ihr Kind zu sor­gen wie um ein le­ben­des. Ver­ge­bens rief sie sich zur Ge­gen­wart zu­rück, sag­te sich: »Das Klei­ne ist tot. Die To­ten lie­gen alle un­ter der Erde – sind alle al­lein«; die Sor­ge ver­ließ sie doch nicht.

      Das Mahl war be­en­det. Gre­the räum­te den Tisch ab; die üb­ri­gen gin­gen in den Gar­ten hin­aus. »Las­sen wir sie al­lein; viel­leicht schläft sie«, flüs­ter­te Frau Böhk.

      Es war schon Abend, als Rosa er­schro­cken vom Sofa auf­fuhr. Das Zim­mer war fins­ter. Ne­ben­an in der Kü­che wur­de ge­spro­chen, aber noch ein an­de­res un­un­ter­bro­che­nes Tö­nen er­füll­te die Luft. Rosa rieb sich die Au­gen. Es war ihr, als hät­te sie et­was ver­säumt, sie dach­te nach. Ein Blitz er­hell­te das Ge­mach, der Don­ner krach­te, dass die Fens­ter­schei­ben klirr­ten, und große Trop­fen pras­sel­ten nie­der. Rosa sprang auf. »Mein ar­mer En­gel«, sprach sie vor sich hin. Sie muss­te zu ihm, es war stär­ker als sie. »Ein­mal will ich es noch bei mir ha­ben. Wer wird es wis­sen?« Sie schlich in ihre Kam­mer hin­auf, leg­te ih­ren Man­tel an und ver­barg ein Tuch und eine De­cke un­ter dem­sel­ben. Es war kein Un­recht, was sie vor­hat­te, aber die Böhk durf­te es nicht wis­sen. Als sie die Trep­pe hin­ab­stieg, stand die Heb­am­me im Flur und schi­en sie er­war­tet zu ha­ben. Sie mach­te ein erns­tes, stren­ges Ge­sicht und frag­te: »Wo­hin, lie­bes Fräu­lein?«

      »Ich woll­te hin­aus­ge­hen«, er­wi­der­te Rosa schüch­tern.

      »Blei­ben Sie lie­ber bei uns«, sag­te Frau Böhk, fass­te wie­der mit ih­ren ei­ser­nen Fin­gern Ro­sas Hand und führ­te sie in das Wohn­zim­mer. Dort nahm sie ihr Hut, Man­tel und die De­cke ab, ohne ein Wort zu spre­chen, als ver­stün­de sich al­les das von selbst. Die an­de­ren ka­men auch her­ein, um­stan­den Rosa und schau­ten sie ver­le­gen und er­staunt an, bis Frau Böhk drein­fuhr: »Was steht ihr? Nehmt et­was vor!«

      Sie durch­schau­ten sie alle, das fühl­te Rosa wohl. Frau Böhk muss­te es ih­nen ge­sagt ha­ben. Wie konn­te die­se es aber wis­sen? Und was hat­te Rosa denn tun wol­len? Sie schau­er­te in sich zu­sam­men, sie fürch­te­te sich vor sich selbst.

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