Kurt Tucholsky - Gesammelte Werke - Prosa, Reportagen, Gedichte. Kurt Tucholsky
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СКАЧАТЬ unsern Fenstern, und sie rauschten mich aus einem Traum, von dem ich schon beim Erwachen nicht mehr sagen konnte, was das gewesen sein mochte. Ich drehte mich in den Kissen; sie waren noch schwer von Traum. Vergessen … Warum war ich aufgewacht?

      Es klopfte.

      »Die Post! Daddy, die Post! Geh mal an die Tür!«

      Die Prinzessin, die eben noch geschlafen hatte, war wach – ohne Übergang.

      Ich ging. Zwischen Bett und Tür überlegte ich, wie es doch zwischen Mann und Frau Morgen-Augenblicke gibt, da hat es sich mit der Liebe ausgeliebt. Sehr entscheidende Augenblicke – wenn die gut verlaufen, dann geht alles gut. Von dem quäkrigen »Wieviel Uhr ist es denn …?« bis zum »Hua – na, da steh auf!« … da pickt die kleine Uhr auf dem Nachttisch viel Zeit auf, der Tag ist erwacht, nun schläft die Nacht, es schläft die unterirdische Hemisphäre … bei den meisten Frauen wenigstens, leider … Ich war an der Tür. Eine Hand steckte Briefe durch den Schlitz.

      Die Prinzessin hatte sich im Bett halbaufgerichtet und warf vor Aufregung alle Kissen durcheinander. »Meine Briefe! Das sind meine Briefe! Du Schabülkenkopp! Gib sie her! Na, da schall doch gliks …« Sie bekam ihren Brief. Er war von ihrer Stellvertreterin aus dem Geschäft, und es stand darin geschrieben, daß es nichts zu schreiben gäbe. Die Sache mit Tichauer wäre in Ordnung. Beim kleinen Inventarbuch wären sie bei G. Das zu hören beruhigte mich ungemein. Was für Sorgen hatten diese Leute! Was für Sorgen sie hatten? Ihre eignen, merkwürdigerweise.

      »Geh mal Wasser braten!« sagte die Prinzessin. »Du mußt dich rasieren. So, wie du da bist, kannst du keinem Menschen einen Kuß geben. Was hast du für einen Brief bekommen?« – Ich grinste und hielt den Brief hinter meinem Rücken verborgen. Die Prinzessin stritt erbittert mit den Kissen. »Wahrscheinlich von irgendeiner Braut … einer dieser alten Exzellenzen, die du so liebst … Zeig her. Zeig her, sag ich!« Ich zeigte ihn nicht. »Ich zeige ihn nicht!« sagte ich. »Ich werde dir den Anfang vorlesen. Ich schwöre, daß es so dasteht, wie ich lese – ich schwöre es. Dann kannst du ihn sehn.« Ein Kissen fiel, erschöpft und zu Tode geschlagen, aus dem Bett. – »Von wem ist er?« – »Er ist von meiner Tante Emmy. Wir sind verzankt. Jetzt will sie etwas von mir. Darum schreibt sie. Sie schreibt:

      Mein lieber Junge! Kurz vor meiner Einäscherung ergreife ich die Feder …«

      »Das ist nicht wahr!« schrie die Prinzessin. »Das ist … gib her! Es ist ganz grrroßartig, wie Bengtsson sagen würde. Geh dich rasieren und halt die Leute hier nich mit deine eingeäscherten Tantens auf!«

      Und dann gingen wir in die Landschaft.

      Das Schloß Gripsholm strahlte in den Himmel; es lag beruhigend und dick da und bewachte sich selbst. Der See schaukelte ganz leise und spielte – plitsch, plitsch – am Ufer. Das Schiff nach Stockholm war schon fort; man ahnte nur noch eine Rauchfahne hinter den Bäumen. Wir gingen quer ins Land hinein.

      »Die Frau im Schloß«, sagte die Prinzessin, »spricht ein privates Deutsch. Eben hat sie mich gefragt, ob wir es nachts auch warm genug hätten – ich wäre wohl gewiß ein Frierküchlein …« – »Das ist schön«, sagte ich. »Man weiß bei den nordischen Leuten nie, ob sie sich das wörtlich aus ihren Sprachen übersetzen oder ob sie unbewußt Neues schaffen. In Kopenhagen kannte ich mal eine, die sagte – und sie hatte eine Baßstimme vor Wut: Dieses Kopenhagen ist keine Hauptstadt – das ist ein Hauptloch! Ob sie das wohl erfunden hat?« – »Du kennst so viele Leute, Daddy!« sagte die Prinzessin. »Das muß schön sein …« – »Nein, ich kenne lange nicht mehr so viel Leute wie früher. Wozu auch?« – »Ick will di mal wat seggen, min Jung«, sagte die Prinzessin, die es heute mit dem Plattdeutschen hatte. »Wenn du nen Minschen kennenliernst un du weißt nich so recht, wat mit em los ist, dann frag di ierst mal: giwt hei mie Leev oder giwt hei mi Geld? Wenn nix von beid Deil, denn lat em lopen und holl di nich bi em upp! Dessenungeachtet brauchst du aber nicht in diesen Fladen zu treten!« – »Donnerschlag!« – »Du sollst keines Fluches gebrauchen, Peter!« sagte die Prinzessin salbungsvoll. »Das schickt sich nicht. Und nun legen wir uns woll ein büschen auf düsen Rasenplatz!«

      Da lagen wir …

      Der Wald rauscht. Der Wind zieht oben durch die Wipfel, und ein ganz feiner Geruch steigt vom Boden auf, ein wenig säuerlich und frisch, moosig, und etwas Harz ist dabei.

      »Was hätte Arnold jetzt gesagt?« fragte ich vorsichtig. Arnold war ihr erster; wenn die Prinzessin sehr guter Laune war, konnte man sie daran erinnern. Jetzt war sie guter Laune. »Er hätte nichts gesagt«, antwortete sie. »Er hatte auch nichts zu sagen, aber das habe ich erst sehr spät gemerkt.« – »Also nicht klug?« – »In meinem Papierkorb ist mehr Ordnung als in dem seinen Kopf! Er sprach wenig. Im Anfang hielt ich dieses Schweigen für sehr bedeutend; er war eben ein karger Schmuser. Das gibt’s!« Schritte auf dem weichen Moos; ein kleiner Junge kam den Waldweg entlanggestolpert, er murmelte etwas vor sich hin … als er uns sah, schwieg er; er blickte zu den Bäumen auf und begann dann zu laufen.

      »Das wäre etwas für einen Staatsanwalt«, sagte ich. »Der würde in seiner Schläue einen ganzen Tatbestand aufbauen. Wahrscheinlich hat dieser Knabe aber nur Zahlen gebetet und sich geschämt, als er uns gesehn hat …« – »Nein, es war so«, sagte die Prinzessin. Sie lag auf dem Rücken und erzählte zu den Wolken: »Ein Jung sall mal nan Kopmann gahn und Seip un Solt halen. Dor sä hei ümme vor sich hen: Seip un Solt … Seip un Solt … Hei sei över nich nah sin Feut, un so füll he övern Bohnenstrang. Dunnersweer! Tran un Teer! sä he – und bleew nu uck bi Tran un Teer un köffte Tran und Teer … Peter! Peter! Wie ist es mit dem Leben! Erzähl schnell, wie es mit dem Leben ist! Nein, jetzt sage nicht wieder deine unanständigen Wörter … die weiß ich allein. Wie ist es? Jetzt gleich will ich es wissen!« – Ich sog den bittern Geschmack aus einem trocknen Zweig mit Fichtennadeln.

      »Erst habe ich gemerkt«, sagte ich, »wie es ist. Und dann habe ich verstanden, warum es so ist – und dann habe ich begriffen, warum es nicht anders sein kann. Und doch möchte ich, daß es anders wird. Es ist eine Frage der Kraft. Wenn man sich selber treu bleibt …«

      Mit ihrem tiefsten Alt: »Nach den Proben an Treue, die du bei mir abgelegt hast …«

      »Ob es wohl möglich ist, mit einer Frau ernsthaft etwas zu bereden. Es ist nicht möglich. Und so was hat nun das Wahlrecht!«

      »Das sagt der Chef auch immer. Was der jetzt wohl macht?«

      »Er wird sich wahrscheinlich langweilen, aber sehr stolz sein, daß er in Abbazia ist. Dein Generalkonsul …«

      »Daddy … dein Literatenstolz ist auch nicht das Richtige. Weißt du – manchmal denke ich so … der Mann ist doch immerhin etwas geworden. Sie haben ihm doch den Generalkonsul und die Seife und den Safe und das alles nicht in die Wiege gelegt – und die Wiege, lieber Daddy … der Mann betont mir viel zu oft, daß er zeit seines Lebens in guten Verhältnissen gelebt hätte – also hat er nicht. Er hat wahrscheinlich allerhand Saures geschluckt, bis sie ihn an das Süße herangelassen haben. Na, nun schmatzt er … Was? Natürlich hat er das vergessen, das mit dem Sauern. Ach, das tun sie ja alle. Erinnerung – Junge, Erinnerung … das ist ein alter Leierkasten. Die Leute haben doch heute ihr Grammophon! Wenn man nur mal rauskriegen könnte, wie so einer langsam was geworden ist – so einer wie der Chef –, wie das so vor sich geht … Verheiratet ist er nicht … und wenn er eine Frau hätte, die könnte es einem ja auch nicht sagen, weil sie nichts gemerkt hat. Sie fände es selbstverständlich, und vom Aufstieg wollen sie ja alle nichts hören, weil sie damit zugeben würden, daß ihre Ahnen noch ohne Visier herumgelaufen sind. Aufstieg … das sagen sie bloß, wenn sie einem keine Gehaltserhöhung geben wollen.«

      Also sprach die kluge Prinzessin Lydia und beendete ihre Rede mit einem herrlichen –

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