Dass ihm das gelungen war, erschwerte es Todd natürlich, sie zu überlisten, ihm seine Freiheit zu schenken. Doch Todd wusste, früher oder später würde sich eine Gelegenheit bieten.
Es war spät. Die Beamten Miller und Murphy waren an diesem Tag schon vor längerer Zeit in ihre Einzimmerwohnung zurückgekehrt, die das Finanzministerium für sie gemietet hatte, als ihr Aufenthalt für unbestimmte Zeit in Florida absehbar geworden war. Todd saß auf seinem Bett und las zum wiederholten Male das Lösungsbuch für ein Spiel, welches er selbstredend noch nie gespielt hatte. In dem Spiel ging es um einen Glücksritter, der exotische Schauplätze erforscht, die Welt bereist, Abenteuer erlebt und mit wunderschönen Frauen schläft. Todd schloss die Augen und träumte von einer Zukunft, in der er aus diesem Gefängnis entfliehen und, mit etwas Glück, dieses Spiel spielen würde.
Todd war so mit seiner Träumerei beschäftigt, damit, sich die Spielkonsole vorzustellen, den Controller in seinen Händen zu spüren, dass er die Schritte, welche sich seiner Zelle näherten, zunächst gar nicht bemerkte. Ihre Suche nach der Datei ging für gewöhnlich so vonstatten, dass einer der Finanzbeamten in der Nähe der Zelle stand und Anweisungen von Todd erhielt. Der andere saß hinter der nächsten Ecke an einem Computer, der sich außerhalb der Reichweite von Todds Magnetfeld befand, führte die Anweisungen aus und meldete zurück, was er sah. Doch all das geschah nur während der Öffnungszeiten. Sobald die Beamten Feierabend gemacht hatten, wurde Todd von niemandem mehr belästigt, außer wenn man ihm seine Mahlzeiten brachte. Todd legte sein Lösungsbuch beiseite und setzte sich auf. Er fragte sich, wer der Besucher sein könnte. Einer der Beamten? Der Gefängnisdirektor vielleicht?
Todd war überrascht, als ein Wachmann, den er noch nie zuvor gesehen hatte, um die Ecke gebogen kam. Der Wachmann musterte Todd und schien wenig beeindruckt von dem, was er sah. Schließlich sagte er: »Ich weiß, wer du bist.«
»Wirklich?«, fragte Todd.
»Ja«, erwiderte der Wachmann. »Du bist Todd Douglas, der Gefangene, der Miller und Murphy hilft. Und jetzt wirst du mir helfen.«
»Wirklich?«, fragte Todd.
»Ja«, versicherte der Wachmann und blickte Todd mit zusammengekniffenen Augen an, auf eine Weise, die wahrscheinlich durchtrieben wirken sollte. »Ich weiß nicht was du getan hast oder wie es ihnen geholfen hat, aber das hat es, und du wirst mir alles darüber erzählen.«
Todd stand auf und näherte sich den Gitterstäben seiner Gefängniszelle. Er lehnte sich gegen die Gitterstäbe und sagte: »Ist das so?«
»Ja«, antwortete der Wachmann.
Es folgte eine lange Stille, dann hustete der Wachmann und fuhr fort. »Sieh mal, als sie anfangs hier aufgetaucht sind, haben wir alle auf Miller und Murphy herabgeschaut. Oh Mann, sie haben uns irgendwie sogar leidgetan. Murphy jedenfalls. Sie hatten ganz offensichtlich einen beschissenen Auftrag, aus Kalifornien hierher verfrachtet, dazu verdonnert, sich den ganzen Tag mit dir zu unterhalten und das jeden Tag. Ihr Leben war ätzend.« Der Wachmann bemerkte den Ausdruck in Todds Gesicht und sagte: »Oh, äh, tut mir leid. Ist nicht böse gemeint.«
»Wirklich?«, fragte Todd.
Der Wachmann redete weiter. »Ich will damit nur sagen, sie wirkten so niedergeschlagen. Doch dann, ganz plötzlich, sind sie obenauf.«
Es stimmte. Mithilfe der Fähigkeiten, die es Todd ermöglicht hatten, die ursprüngliche Datei zu hacken, und neuer Erkenntnisse, waren sie vor zwei Tagen auf eine frische, bis dahin unentdeckte Version der Datei gestoßen. Zuvor hatten die Beamten Miller und Murphy, als sie ihre Notizen durchgegangen waren, Muster aus der Zeit entdeckt, in der sie mit Jimmy auf der Suche nach verschiedenen Varianten der Datei gewesen waren. Die neue Version war nicht von denjenigen gesperrt worden, die versuchten, die Macht der Datei für sich zu behalten.
Sie hatten seitdem ihre Arbeitszeit damit verbracht, die Datei zu untersuchen. Miller und Murphy wirkten geradezu enthusiastisch und stellten viele Fragen, die Todd zu beantworten versuchte, während sie unter seiner Anleitung seinen eigenen Dateieintrag als Vorlage verwendeten.
Der Wachmann erzählte: »Einige der Jungs sagen, sie hätten Miller und Murphy reden hören. Sie behaupten, die richten sich ein neues Hauptquartier für ihre Sondereinheit ein. Bekommen ein Büro. Stellen Mitarbeiter ein. Schlagen ihre Zelte auf. Scheint so, als hätten sie einen Weg gefunden, mit was auch immer du ihnen erzählt hast, dem Finanzamt eine ordentliche Finanzspritze herauszuleiern.«
Todd lächelte und fragte: »Wirklich?«
»Ja, wirklich!«, schrie der Wachmann. »Wirklich, klar?! Wirklich!«
»Schon gut, klar. Tut mir leid«, beschwichtigte Todd. Er hatte sofort den Verdacht, diese Geschichte sei ein Ablenkungsmanöver. Das Finanzamt war erklärtermaßen überaus knauserig. Eine der simpelsten Anwendungen der Datei bestand darin, unbegrenzte Mengen an Bargeld zu erzeugen. Es war sehr viel wahrscheinlicher, dass Miller und Murphy ihr neues Büro und dessen Mitarbeiter dazu benutzten, auf irgendeine Weise das Geld, welches sie mithilfe der Datei erzeugten, zu verstecken und zu waschen. Vermutliche redeten sie sich ein, sie würden das Geld zur Finanzierung ihrer Bemühungen im Kampf gegen das Verbrechen verwenden. Früher oder später jedoch würden sie vor lauter Machtbesessenheit durchdrehen. So wie jeder, der die Datei entdeckte.
Jeder außer mir, dachte Todd. Sie haben mir den Zugang weggenommen, bevor ich die Gelegenheit dazu hatte.
»Was hat denn das alles mit dir zu tun?«, erkundigte sich Todd.
Der Wachmann entgegnete: »Ganz einfach, ich hasse diesen Ort.«
Todd sagte: »Es ist ein Gefängnis.«
»Ja, das weiß ich, aber Mann, du verstehst das nicht. Ich will hier wirklich raus.«
»Es ist ein Gefängnis und ich bin ein Gefangener. Ich verstehe den Drang, hier rauskommen zu wollen.«
»Nicht meinen«, stellte der Wachmann richtig.
»Da könntest du recht haben«, stimmte Todd zu, der mehr Beherrschung an den Tag legte als üblich.
»Dann wirst du mir helfen?«
»Helfen, wobei?«, stammelte Todd. »Beim Abhauen? Ich kann hier selber nicht raus! Du schon! Spaziere einfach den Gang runter. Falls dir eine Tür im Weg sein sollte, öffne sie. Gehe weiter, bis du draußen ankommst. Ich verstehe nicht, was du von mir willst.«
»Ich weiß, du bist ein Gefangener und ich ein Wachmann, aber ich sitze genauso in der Falle wie du.«
»Nein, tust du nicht! Du gehst jeden Abend nach Hause!«
»Ja«, bestätigte der Wachmann, »aber jeden Morgen muss ich wieder herkommen. Ich muss aus dem Haus, in mein Auto steigen, das ich noch abbezahle, muss mein Benzin verfahren, um hierher zu kommen, in dieses Gefängnis. Jeden Tag. Ihr Insassen verschwendet nie einen Gedanken daran, wie schrecklich das für uns Wachleute ist, stimmt‘s?«
»Nein«, gab Todd zu. »Du hast recht. Tun wir nicht.«
»Du wirst mir also helfen?«
Todd sagte: »Ich kapier es immer noch nicht. Du hast deinen Job. Na und? Wie kann ich dir da helfen? Brauchst du ein Empfehlungsschreiben? ›Von allen Wachleuten, die mich bewacht haben, hat er mich am besten bewacht‹?«
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