Название: Morde am Fließband: Kriminalgeschichten
Автор: Alexis Willibald
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788027204472
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Ihrem erwählten Defensor, dem Dr. Voget, blieb es vorbehalten, diesem rätselhaften Wesen weiter nachzufolgen in seine scheinbar verborgensten Schlupfwinkel, um der Mit-und Nachwelt darzutun, daß hier weder dämonische Einflüsse gewaltet haben, noch daß die Gottfried eine Ausgeburt der Hölle war, sondern ein menschliches Wesen gleich uns, das nur, in Eitelkeit gesäugt, von der Sünde genährt und gesättigt, von Stufe zu Stufe immer tiefer sank. So wenig es ihm gelang und gelingen konnte, sie vor dem weltlichen Richtstuhle zu verteidigen, um so erfolgreicher war er, durch eine unermüdliche Behandlung in ihr innerstes Sein einzudringen: eine Aufgabe, die durch bloßen Pflichteifer nicht zu lösen war. Es gehörte mehr dazu, ein ganz besonderes Interesse, bei ihm durch religiöse Motive warm und frisch erhalten, um nicht durch die beständigen Rückfälle der Heuchlerin ermüdet und gereizt zu werden. Er mußte bei ihren proteischen Windungen jeden Silberblick der Wahrheit, der aus ihrer erschöpften, hohlen Seele kam, erhaschen und schnell festzuhalten versuchen; er mußte jede Gemütsbewegung benutzen, um ihrer schnell vorübergehenden Zerknirschung ein Geständnis abzupressen, welches sie aus Eitelkeit und Furcht vor strenger Bestrafung jeden Augenblick bereit war wieder zurückzunehmen oder durch eine neue Lüge zu trüben. So gelang es ihm endlich nach einer Arbeit, wie sie selten ein Geistlicher, noch seltener ein gerichtlicher Verteidiger übernimmt, ein vollständiges Bild dieses Wesens, das eigentlich nur noch ein Schemen war, zusammengehalten von der Eitelkeit, zu entwerfen, welches er in einem ausführlichen Werke »Lebensgeschichte der Giftmörderin Gescha Margaretha Gottfried, geborenen Timm. Nach erfolgtem Straferkenntnisse höchster Instanz herausgegeben von dem Defensor derselben, Dr. F. L. Voget« (Bremen 1831) niedergelegt hat. Diesem ließ er in demselben Jahre ein zweites Werk folgen: »Die Giftmörderin Gescha Margaretha Gottfried in der Gefangenschaft bis zur Hinrichtung. Nach Vollzug des Todesurteils herausgegeben von dem Defensor usw.«, dessen Inhalt sein Titel besagt. Zu Hilfe kam ihm hierbei eine Autobiographie, welche die Gottfried, wohl vorzüglich aus dem Motiv der Eitelkeit, in ihrem Gefängnisse zu schreiben bewogen wurde. Sie selbst wünschte, daß ihre Geschichte geschrieben und dem Publikum bekannt gemacht würde, sie selbst trug dies ihrem Defensor auf. Wenn ihr nichts auf Erden bliebe als ihr gräßlicher Ruf, so wünschte sie doch dies letzte Besitztum sich zu erhalten, und wenn sie in religiöser Demut zu hoffen vorgab, daß ihr Beispiel warnend auf andere einwirken werde, so gab sie daneben doch auch der schmeichelnden Hoffnung Raum, daß man sie etwas besser und interessanter darstellen werde, als wofür sie die Menge hielt.
Bei diesem Kriminalfall kommt es nicht auf eine Geschichte des Prozesses an. Dieser ist einfach genug. Die Lügenwindungen, in denen die Gottfried sich erging, um nicht mit einem Male die ganze Last aller ihrer Giftmorde auf sich gewälzt zu sehen, und die widerwärtigen Versuche, ein freundlicheres Licht auf ihre Untaten zu werfen, kommen nicht auf gegen die interessanten Zwischenfälle, die den Prozeß der Brinvillier lebendig machen. Die Verbrechen an sich sind hier die Hauptsache, vor der die gerichtlichen Verhandlungen als Nebensache verschwinden. Wir glauben unserem Zwecke genugzutun, wenn wir die Lebensgeschichte der Gottfried, das ist die Geschichte ihrer Untaten, aus dem umfangreichen Werke in eine kürzere Erzählung zusammenfassen und später daran reihen, was aus der Untersuchungsgeschichte zur Ergänzung ihrer Charakteristik von Wichtigkeit erscheint.
In der Pelzerstraße in Bremen lebte die Familie eines ehrbaren Frauenschneiders namens Johann Timm, die sich den Ruf der Arbeitsamkeit und treuen Rechtschaffenheit in der ganzen Nachbarschaft erworben hatte. Vater Timm war so fleißig in seinem Berufe, daß sie von ihm sagten, er halte beim Nähen den Atem an, um mehr Nadelstiche in einer Minute zu machen. Zu eigentlichem Wohlstände brachte er es seiner großen Tätigkeit und Sparsamkeit ungeachtet nie; aber er konnte es doch auf seinen guten Ruf hin wagen, das Haus, in welchem er später starb, anzukaufen, und so viel blieb und mußte bei seinem Verdienst übrig bleiben, daß die Armen jede Woche ihr Teil erhielten. Das war in der Bibel geboten, und Timm und sein Eheweib wollten hinter keinem biblischen Gesetze zurückbleiben. Er sang jeden Tag sein Morgenlied, besuchte regelmäßig die Kirche und galt als fromm und gottesfürchtig, was indes nicht hinderte, daß der Defensor seiner Tochter meint, seine Religiosität habe mehr in einer äußeren Werkgerechtigkeit bestanden als in wahrhafter Gottesfurcht und Liebe. Aus dieser Schule entsprang die Religiosität, ja die ganze Geistesrichtung seiner Tochter, deren Tun und Streben in wohlgefälligen Handlungen von früh auf nur dahin ging, daß es den Leuten gefalle und sie es lobten.
Am 6. März 1785 gebar Timms junge Frau Zwillinge, einen Sohn und eine Tochter. Bei diesen Kindern verblieb es. Der Sohn Johann Christoph machte später den Eltern wenig Freude. Auf der Wanderschaft geriet er in liederliche Gesellschaft, wurde verführt, krank, kostete den Eltern viel Geld, ließ sich endlich als Husar unter Napoleon anwerben, bis er nach langen Jahren als ein Krüppel wieder in seiner Vaterstadt erscheint.
Das Mädchen, Gescha Margaretha, indessen war bald die Freude und der Augapfel beider Eltern. Schwächlich, war sie doch nicht kränklich. Von der zartesten Gestalt und der feinsten Bildung, fast nur Knochen und Haut, schwebte von früh an etwas Ätherisches über ihrem ganzen Wesen, das sie für besser erscheinen ließ, als sie war. Anmutig und leicht in ihrer Bewegung, lieblich in ihrem Benehmen, mit einem freundlichen, hübschen, offenen Gesicht, war das Kind überall gern gesehen und wurde von den Erwachsenen geliebkost und anderen als Muster gezeigt.
Schon im frühen Alter von drei Jahren mußte die kleine Gescha die Schule besuchen, damit sie an ein äußeres gesetzmäßiges Wesen gewöhnt werde. Ihre Schulgespielinnen hatten Taschengeld von den Eltern und benutzten es zu Näschereien. Gescha hatte stets leere Taschen. Ohne die größte Not gaben ihre kargen Eltern keinen Groten (etwas mehr als ein Kreuzer Rhein.) aus. Da half sie sich selbst. Wenn sie von der Mutter ausgeschickt ward, um Weißbrot zu holen, brachte sie unter den größeren einige kleinere und erübrigte dadurch manchen Groten zu jenem Zwecke. Das war der erste Schritt zur Sünde, Gescha war damals sieben Jahre alt.
Der Betrug wurde nicht entdeckt. Das war eine Aufmunterung zur Wiederholung. Glücklich darüber, daß es nie herauskam, ging sie zu eigentlichen Diebereien über. Sie nahm aus der unbewahrten Tasche der Mutter einen, zwei, bis zwölf Groten. Der Verlust blieb zwar nicht unbemerkt; welche Mutter sollte aber einen Verdacht auf ihr liebliches, offenes Kind werfen, auf den »Engel von Tochter«, wie beide Eltern ihre Gescha nannten. Das verschlossene, menschenscheue Wesen ihres Bruders lenkte ihn weit eher auf sich, und Gescha – schwieg zur Verdächtigung ihres Bruders.
Fünf Jahre setzte Gescha diese Diebereien fort, ohne daß ein Verdacht auf sie fiel; fünf Jahre heuchelte sie bei diesen kleinen Sünden ein unschuldiges Wesen und ward nach wie vor belobt, gestreichelt und belohnt. Welche Schule, in der Sünde fortzufahren! Sie vergriff sich, elf Jahre alt, an fremdem Eigentum und entwendete einer alten Mamsell, die bei Timms zur Miete wohnte, eine bedeutendere Summe als jemals vorher, etwa im Betrag von einem Taler. Der Diebstahl wurde entdeckt, die Täterin nicht. Das Haus geriet in Aufruhr. Alles ward vergebens durchsucht; der Vater schloß nun auf seinen Sohn. Da rief die Mutter: »Warte nur, Vater, ich weiß schon ein Mittel und will gleich hinter die Wahrheit kommen.« Nach einer halben Stunde kam sie zurück und sprach mit zuversichtlicher Miene: »Ich hab’ den Dieb gesehen. Einer klugen Frau in der Neustadt habe ich’s gesagt. Die holte einen Spiegel, und wie ich hineinsehe, steht der Dieb da und guckt über meine Schulter.« Die Mutter hatte ihre Tochter dabei scharf ins Auge gefaßt, und wie ein Schwert drangen ihr die Worte ins Herz. Das ist dein Gesicht gewesen, dachte sie, und von nun an wagte sie im elterlichen Hause nie mehr etwas zu entwenden. Mit einer kleinen Erschütterung ging so die Krisis vorüber; aber es war nicht herausgekommen, sie stand, in der Verstellungskunst früh geübt, vor der Welt so rein da als vorher und war nach wie vor der Engel ihrer Eltern.
In ihrem zwölften Jahre hatte Gescha nach Ansicht ihrer Eltern genug gelernt. Sie ward aus der Schule genommen und mußte im Hause an Stelle der abgeschafften Dienstmagd alle nötigen Arbeiten verrichten, zugleich aber auch für den Vater nähen und an Wochentagen außer Hause arbeiten; das Erworbene ward ihr in der Sparbüchse СКАЧАТЬ