Geschlecht und Charakter: Eine prinzipielle Untersuchung. Otto Weininger
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СКАЧАТЬ Weg, den man durch das Waldesdickicht bereits gefunden zu haben glaubt, sich verliert im undurchdringlichen Gestrüppe, der Faden nicht mehr herauszulösen ist aus der unendlichen Verfilzung. Das schlimmste aber ist, daß betreffs der Methode einer systematischen Darstellung des wirklich entwundenen Stoffes, anläßlich der prinzipiellen Deutung auch erfolgreicher Anfänge, sich wieder und wieder die ernstesten Bedenken erheben und gerade der Typisierung sich entgegentürmen. In dem Falle des Geschlechtsgegensatzes z. B. erwies sich bis jetzt die Annahme einer Art Polarität der Extreme und unzähliger Abstufungen zwischen denselben als die einzig brauchbare. Es scheint so auch in den meisten übrigen charakterologischen Dingen — auf einige komme ich selbst noch zu sprechen — etwas wie Polarität zu geben (was schon der Pythagoreer Alkmaion von Kroton geahnt hat); und vielleicht wird auf diesem Gebiete die Schellingsche Naturphilosophie noch ganz andere Genugtuungen erleben als die Auferstehung, welche ein physikalischer Chemiker unserer Tage ihr bereitet zu haben vermeint.

      Aber ist die Hoffnung berechtigt, durch die Festlegung des Individuums auf einem bestimmten Punkte in den Verbindungslinien je zweier Extreme, ja durch unendliche Häufung dieser Verbindungslinien, durch ein unendlich viele Dimensionen zählendes Koordinatensystem das Individuum selbst je zu erschöpfen? Verfallen wir nicht, nur auf einem konkreteren Gebiet, bereits in die dogmatische Skepsis der Mach-Humeschen Ich-Analyse zurück, wenn wir die vollständige Beschreibung des menschlichen Individuums in Form eines Rezeptes erwarten? Und führt uns da nicht eine Art Weismannscher Determinanten-Atomistik zu einer Mosaik-Psychognomik, nachdem wir uns von der »Mosaik-Psychologie« eben erst zu erholen beginnen?

      In neuer Fassung stehen wir hier vor dem alten und, wie sich zeigt, noch immer lebendig zähen Grundproblem: Gibt es ein einheitliches und einfaches Sein im Menschen, und wie verhält es sich zu der zweifellos neben ihm bestehenden Vielheit? Gibt es eine Psyche? Und wie verhält sich die Psyche zu den psychischen Erscheinungen? Man begreift nun, warum es noch immer keine Charakterologie gibt: Das Objekt dieser Wissenschaft, der Charakter, ist seiner Existenz nach selbst problematisch. Das Problem aller Metaphysik und Erkenntnistheorie, die höchste Prinzipienfrage der Psychologie, ist auch das Problem der Charakterologie, das Problem »vor aller Charakterologie, die als Wissenschaft wird auftreten können«. Wenigstens aller erkenntniskritisch über ihre Voraussetzungen, Ansprüche und Ziele unterrichteten und aller über Unterschiede im Wesen der Menschen Belehrung erstrebenden Charakterologie.

      Diese, sei's drum, unbescheidene Charakterologie will mehr sein als jene »Psychologie der individuellen Differenzen«, deren erneute Aufstellung als eines Zieles der psychologischen Wissenschaft durch L. William Stern darum doch eine sehr verdienstvolle Tat war; sie will mehr bieten als ein Nationale der motorischen und sensorischen Reaktionen eines Individuums, und darum soll sie nicht gleich zu dem Tiefstand der übrigen modernen psychologischen Experimentalforschung herabsinken, als welche sie ja nur eine sonderbare Kombination von statistischem Seminar und physikalischem Praktikum vorstellt. So hofft sie mit der reichen seelischen Wirklichkeit, aus deren völligem Vergessen das Selbstbewußtsein der Hebel- und Schraubenpsychologie einzig erklärt werden kann, in einem herzlichen Kontakte zu bleiben und fürchtet nicht, die Erwartungen des nach Aufklärung über sich selbst dürstenden Studenten der Psychologie durch Untersuchungen über das Lernen einsilbiger Worte und den Einfluß kleiner Kaffeedosen auf das Addieren befriedigen zu müssen. So traurig es als Zeichen der übrigens allgemein dumpf empfundenen prinzipiellen Unzulänglichkeit der modernen psychologischen Arbeit ist, so begreiflich ist es doch, wenn angesehene Gelehrte, die sich unter einer Psychologie mehr vorgestellt haben als eine Empfindungs- und Assoziationslehre, vor der herrschenden Öde zu der Überzeugung gelangen, Probleme wie das Heldentum oder die Selbstaufopferung, den Wahnsinn oder das Verbrechen müsse die reflektierende Wissenschaft auf ewig der Kunst, als dem einzigen Organe ihres Verständnisses, überlassen und jede Hoffnung aufgeben, nicht sie besser zu verstehen als jene (das wäre anmaßend einem Shakespeare oder Dostojewskij gegenüber), wohl aber, sie ihrerseits auch nur systematisch zu begreifen.

      Keine Wissenschaft muß, wenn sie unphilosophisch wird, so schnell verflachen wie die Psychologie. Die Emanzipation von der Philosophie ist der wahre Grund des Verfalles der Psychologie. Gewiß nicht in ihren Voraussetzungen, aber in ihren Endabsichten hätte die Psychologie philosophisch bleiben sollen. Sie wäre dann zunächst zu der Einsicht gelangt, daß die Lehre von den Sinnesempfindungen mit der Psychologie direkt überhaupt nichts zu tun hat. Die empirischen Psychologien von heutzutage gehen von den Tast- und Gemeinempfindungen aus, um mit der »Entwicklung eines sittlichen Charakters« zu endigen. Die Analyse der Empfindungen gehört aber zur Physiologie der Sinne, jeder Versuch, ihre Spezialprobleme in eine tiefere Beziehung zu dem übrigen Inhalte der Psychologie zu bringen, muß mißlingen.

      Es ist das Unglück der wissenschaftlichen Psychologie gewesen, daß sie von zwei Physikern, von Fechner und von Helmholtz, am nachhaltigsten sich hat beeinflussen lassen und so verkennen konnte, daß sich zwar die äußere, aber nicht so auch die innere Welt aus baren Empfindungen zusammensetzt. Die zwei feinsinnigsten unter den empirischen Psychologen der letzten Jahrzehnte, William James und Richard Avenarius, sind denn auch die beiden einzigen, die wenigstens instinktiv gefühlt haben, daß man die Psychologie nicht mit dem Hautsinn und Muskelsinn anfangen dürfe, während alle übrige moderne Psychologie mehr oder minder Empfindungskleister ist. Hier liegt der von Dilthey nicht scharf genug bezeichnete Grund dafür, daß die heutige Psychologie zu den Problemen, die man als eminent psychologische sonst zu bezeichnen gewohnt ist, zur Analyse des Mordes, der Freundschaft, der Einsamkeit u. s. w., gar nicht gelangt, ja — hier verfängt nicht die alte Berufung auf ihre große Jugend — zu ihnen gar nicht gelangen kann, da sie in einer ganz anderen Richtung sich bewegt, als in einer, die sie am Ende doch dahin führen könnte. Darum hat die Losung des Kampfes um eine psychologische Psychologie in erster Linie zu sein: Hinaus mit der Empfindungslehre aus der Psychologie!

      Das Unternehmen einer Charakterologie in dem oben bezeichneten weiteren und tieferen Sinne involviert vor allem den Begriff des Charakters selbst, als den Begriff eines konstanten einheitlichen Seins. Wie die schon im 5. Kapitel des I. Teiles zum Vergleich herangezogene Morphologie die bei allem physiologischen Wechsel gleich bleibende Form des Organischen behandelt, so setzt die Charakterologie als ihren Gegenstand ein Gleichbleibendes im psychischen Leben voraus, das in jeder seelischen Lebensäußerung in analoger Weise nachweisbar sein muß, und ist so vor allem jener »Aktualitätstheorie« vom Psychischen entgegengesetzt, die ein Bleibendes schon darum nicht anerkennen mag, weil sie auf jener empfindungsatomistischen Grundanschauung beruht.

      Der Charakter ist danach nicht etwas hinter dem Denken und Fühlen des Individuums Thronendes, sondern etwas, das sich in jedem Gedanken und jedem Gefühle desselben offenbart. »Alles, was ein Mensch tut, ist physiognomisch für ihn.« Wie jede Zelle die Eigenschaften des ganzen Individuums in sich birgt, so enthält jede psychische Regung eines Menschen, nicht bloß einzelne wenige »Charakterzüge«, sein ganzes Wesen, von dem nur im einen Momente diese, im anderen jene Eigentümlichkeit mehr hervortritt.

      Wie es weiter gar keine isolierte Empfindung gibt, sondern stets ein Blickfeld und ein Empfindungsganzes da ist, als das dem Subjekte gegenüberstehende Objekt, als die Welt des Ichs, von welcher nur einmal der eine, ein anderes Mal der andere Gegenstand sich deutlicher abhebt: so steckt in jedem Augenblicke des psychischen Lebens der ganze Mensch, und es fällt nur in jeder Zeiteinheit der Accent auf einen anderen Punkt seines Wesens. Dieses überall in dem psychischen Zustande jedes Augenblickes nachweisbare Sein ist das Objekt der Charakterologie. So würde diese erst die notwendige Ergänzung der bisherigen empirischen Psychologie bilden, die, in merkwürdigem Gegensatze zu ihrem Namen einer Psychologie, bisher fast ausschließlich den Wechsel im Empfindungsfelde, die Buntheit der Welt, in Betracht gezogen und den Reichtum des Ich ganz vernachlässigt hat. Damit könnte sie auf die allgemeine Psychologie als die Lehre von dem Ganzen, das aus der Kompliziertheit des Subjektes und der Kompliziertheit des Objektes resultiert СКАЧАТЬ