Geschlecht und Charakter: Eine prinzipielle Untersuchung. Otto Weininger
Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Geschlecht und Charakter: Eine prinzipielle Untersuchung - Otto Weininger страница 10

СКАЧАТЬ

      Ich verhehle mir nicht, daß die Art, wie dieses Gesetz hier eingeführt wurde, etwas Dogmatisches hat, das ihm bei dem Mangel einer exakten Begründung um so schlechter ansteht. Mir konnte aber auch hier weniger daran liegen, mit fertigen Ergebnissen hervorzutreten, als zur Gewinnung solcher anzuregen, nachdem die Mittel, die mir zur genauen Überprüfung jener Sätze nach naturwissenschaftlicher Methode zur Verfügung standen, äußerst beschränkte waren. Wenn also auch im einzelnen vieles hypothetisch bleibt, so hoffe ich doch im folgenden mit Hinweisen auf merkwürdige Analogien, die bisher keine Beachtung gefunden haben, die einzelnen Balken des Gebäudes noch durcheinander stützen zu können: einer »rückwirkenden Verfestigung« vermögen vielleicht selbst die Prinzipien der analytischen Mechanik nicht zu entbehren.

      Eine höchst auffällige Bestätigung erfährt das aufgestellte Gesetz zunächst durch eine Gruppe von Tatsachen aus dem Pflanzenreiche, die man bisher in völliger Isolation betrachtet hat und denen demgemäß der Charakter der Seltsamkeit in hohem Grade anzuhaften schien. Wie jeder Botaniker sofort erraten haben wird, meine ich die von Persoon entdeckte, von Darwin zuerst beschriebene, von Hildebrand benannte Erscheinung der Ungleichgriffeligkeit oder Heterostylie. Sie besteht in folgendem: Viele dikotyle (und eine einzige monokotyle) Pflanzenspezies, z. B. Primulaceen und Geraniaceen, besonders aber viele Rubiaceen, lauter Pflanzen, auf deren Blüte sowohl Pollen als Narbe funktionsfähig sind, aber nur für Produkte fremder Blüten, die also in morphologischer Beziehung androgyn, in physiologischer Hinsicht jedoch diözisch erscheinen — diese alle haben die Eigentümlichkeit, ihre Narben und Staubbeutel auf verschiedenen Individuen zu verschiedener Höhe zu entwickeln. Das eine Exemplar bildet ausschließlich Blüten mit langem Griffel, daher hochstehender Narbe und niedrigen Antheren (Staubbeuteln): es ist nach meiner Auffassung das weiblichere. Das andere Exemplar hingegen bringt nur Blüten hervor mit tiefstehender Narbe und hochstehenden Antheren (weil langen Staubfäden): das männlichere. Neben diesen »dimorphen« Arten gibt es aber auch »trimorphe«, wie Lythrum salicaria, mit dreierlei Längenverhältnissen der Geschlechtsorgane: außer der Blütenform mit langgriffeligen und der mit kurzgriffeligen findet sich hier noch eine mit »mesostylen« Blüten, d. i. mittellangen Griffeln. Obwohl nur dimorphe und trimorphe Heterostylie den Weg in die Kompendien gefunden haben, ist auch damit die Mannigfaltigkeit nicht erschöpft. Darwin deutet an, daß, »wenn kleinere Verschiedenheiten berücksichtigt werden, fünf verschiedene Sitze von männlichen Organen zu unterscheiden seien«. Es besteht also auch die hier unleugbar vorkommende Diskontinuität, die Trennung der verschiedenen Grade von Maskulität und Muliebrität in verschiedene Stockwerke nicht allgemein zu Recht, auch in diesem Falle haben wir hie und da kontinuierlichere sexuelle Zwischenformen vor uns. Anderseits ist auch dieses diskrete Fächerwerk nicht ohne frappante Analogien im Tierreich, wo die betreffenden Erscheinungen als ebenso vereinzelt und wunderbar angesehen wurden, weil man sich der Heterostylie gar nicht entsann. Bei mehreren Insektengattungen, nämlich bei Forficuliden (Ohrwürmern) und Lamellicornien (und zwar bei Lucanus cervus, dem Hirschkäfer, bei Dynastes hercules und Xylotrupes gideon) gibt es einerseits viele Männchen, welche den sekundären Geschlechtscharakter, der sie von den Weibchen am sichtbarsten scheidet, die Fühlhörner zu sehr großer Länge entwickeln; die andere Hauptgruppe der Männchen hat nur relativ wenig entwickelte Hörner. Bateson, von dem die ausführlichere Beschreibung dieser Verhältnisse herrührt, unterscheidet darum unter ihnen »high males« und »low males«. Zwar sind diese beiden Typen durch kontinuierliche Übergänge miteinander verbunden, aber die zwischen ihnen vermittelnden Stufen sind selten, die meisten Exemplare stehen an der einen oder der anderen Grenze. Leider ist es Bateson nicht darum zu tun gewesen, die sexuellen Beziehungen dieser beiden Gruppen zu den Weibchen zu erforschen, da er die Fälle nur als Beispiele diskontinuierlicher Variation anführt; und so ist nicht bekannt, ob es zwei Gruppen auch unter den Weibchen der betreffenden Arten gibt, die eine verschiedene sexuelle Affinität zu den verschiedenen Formen der Männchen besitzen. Darum lassen sich auch diese Beobachtungen nur als eine morphologische Parallele zur Heterostylie, nicht als physiologische Instanzen für das Gesetz der sexuellen Anziehung verwenden, für das die Heterostylie in der Tat sich verwerten läßt.

      Denn in den heterostylen Pflanzen liegt vielleicht eine völlige Bestätigung der Ansicht von der allgemeinen Gültigkeit jener Formel innerhalb aller Lebewesen vor. Es ist von Darwin nachgewiesen und seither von vielen Beobachtern in gleicher Weise konstatiert worden, daß bei den heterostylen Pflanzen Befruchtung fast nur dann Aussicht auf guten Erfolg hat, ja oft nur in dem Falle möglich ist, wenn der Pollen der makrostylen Blüte, d. i. derjenige von den niedrigeren Antheren, auf die mikrostyle Narbe eines anderen Individuums, welches sodann lange Staubfäden hat, übertragen wird, oder der aus hochstehenden Staubbeuteln stammende Pollen einer mikrostylen Blüte auf die makrostyle Narbe einer anderen Pflanze (mit kurzen Filamenten). So lang also in der einen Blüte der Griffel, d. h. so gut weiblich in ihr das weibliche Organ entwickelt ist, so lang muß in der anderen, von der sie mit Erfolg empfangen soll, das männliche, der Staubfaden sein, und umso kürzer in der letzteren der Griffel, dessen Länge den Grad der Weiblichkeit mißt. Wo dreierlei Griffellängen vorhanden sind, da fällt die Befruchtung nach derselben erweiterten Regel am besten aus, wenn der Pollen auf diejenige Narbe übertragen wird, die auf einer anderen Blüte in derselben Höhe steht wie der Staubbeutel, aus welchem der Pollen stammt. Wird dies nicht eingehalten, sondern etwa künstliche Befruchtung mit nicht-adäquatem Pollen herbeigeführt, so entstehen, wenn diese Prozedur überhaupt von Erfolg begleitet ist, fast immer nur kränkliche und kümmerliche, zwerghafte und durchaus unfruchtbare Sprößlinge, die den Hybriden aus verschiedenen Spezies äußerst ähneln.

      Den Autoren, welche die Heterostylie besprochen haben, merkt man es insgesamt an, daß sie mit der gewöhnlichen Erklärung dieses verschiedenartigen Verhaltens bei der Befruchtung nicht zufrieden sind. Diese besagt nämlich, daß die Insekten beim Blütenbesuch gleich hoch gestellte Sexualorgane mit der gleichen Körperstelle berühren und so den merkwürdigen Effekt herbeiführen. Darwin gesteht jedoch selbst, daß die Bienen alle Arten von Pollen an jeder Körperstelle mit sich tragen; es bleibt also das elektive Verfahren der weiblichen Organe bei Bestäubung mit doppelt und dreifach verschiedenen Pollen nach wie vor aufzuhellen. Auch scheint jene Begründung, so ansprechend und zauberkräftig sie sich ausnimmt, doch etwas oberflächlich, wenn eben mit ihr verständlich gemacht werden soll, warum künstlicher Bestäubung mit inadäquatem Pollen, sogenannter »illegitimer Befruchtung«, so schlechter Erfolg beschieden ist. Jene ausschließliche Berührung mit »legitimem« Pollen müßte dann die Narben durch Gewöhnung nur für den Blütenstaub dieser einen Provenienz aufnahmsfähig haben werden lassen; aber es konnte soeben Darwin selbst als Zeuge dafür einvernommen werden, daß diese Unberührtheit durch anderen Pollen vollkommen illusorisch ist, indem die Insekten, welche als Ehevermittler hiebei in Anspruch genommen werden, tatsächlich viel eher eine unterschiedslose Kreuzung begünstigen.

      Es scheint also die Hypothese viel plausibler, daß der Grund dieses eigentümlich auswählenden Verhaltens ein anderer, tieferer, in den Blüten selbst ursprünglich gelegener ist. Es dürfte sich hier wie beim Menschen darum handeln, daß die sexuelle Anziehung zwischen jenen Individuen am größten ist, deren eines ebensoviel von M besitzt wie das andere von W, was ja wieder nur ein anderer Ausdruck der obigen Formel ist. Die Wahrscheinlichkeit dieser Deutung wird ungemein erhöht dadurch, daß in der männlicheren, kurzgriffeligen Blüte die Pollenkörner in den hier höher stehenden Staubbeuteln auch stets größer, die Narbenpapillen kleiner sind als die homologen Teile in der langgriffeligen weiblicheren. Man sieht hieraus, daß es sich kaum um etwas anderes handeln kann als um verschiedene Grade der Männlichkeit und Weiblichkeit. Und unter dieser Voraussetzung erfährt hier das aufgestellte Gesetz der sexuellen Affinität eine glänzende Verifikation, indem eben im Tier- und im Pflanzenreiche — an späterem Orte wird hierauf zurückzukommen sein — Befruchtung stets dort den besten Erfolg aufweist, wo die Eltern die größte sexuelle Affinität zueinander gehabt haben.[8]

      Daß im Tierreich das Gesetz in voller Geltung besteht, wird erst bei der Besprechung des »konträren Sexualtriebes« СКАЧАТЬ