Über die Kolyma / О Колыме. Книга для чтения на немецком языке. Варлам Шаламов
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СКАЧАТЬ nämlich nicht, was Glück ist – am Leben bleiben nach großen Qualen oder sterben, ehe die Leiden beginnen.

      Ich erinnere mich gut, wie die fünfte Überfahrt der »Kulu« endete.

      In der Nagajew-Bucht kam der Dampfer nachts an, und das Ausladen wurde auf den Morgen verschoben. Am Morgen ging ich auf Deck und schaute, und mein Herz zog sich zusammen von gewaltiger Unruhe.

      Es fiel feiner kalter Regen. Am Ufer kahle rotstichige Bergkuppen, umgeben von dunkelgrauen Regenwolken. Baracken, umzäunt von Stacheldraht[33]. Eine in die Ferne und in die Höhe führende schmale Straße, und unzählige Bergkuppen …

      Drei Tage in der Etappe, in Segeltuchzelten, durchnässt von dem ununterbrochenen Regen. Die Arbeit – Verlegen einer Straße in die Wesjolaja-Bucht. Verladung auf Autos, die Chaussee windet sich zwischen den Bergen, immerzu in die Höhe, mit jeder Kurve wird es immer kälter, die Luft immer trockener, und am zwanzigsten August dann lädt man uns im Bergwerk »Partisan« der Nördlichen Bergwerksverwaltung aus.

      Warum erinnere ich mich denn, dass die Überfahrt des Dampfers »Kulu« in der Schifffahrtsperiode des Jahres 1937 eben die fünfte war?

      Weil ich es mir fünfzehn Jahre lang in Erinnerung rufen musste bei den endlosen Zählungen, die sich dort »Generalappell « nannten. Weil man sich bei der Überführung von Ort zu Ort, von einem Lagerpunkt zum anderen, jedes Mal derselben Befragung unterziehen musste.

      Der Häftling wird im Lager jeden lieben Tag genötigt, auf mehrere Fragen zu antworten.

      Name?

      Vor- und Vatersname?

      Artikel?

      Haftdauer?

      Ankunft an der Kolyma?

      Auf welchem Dampfer?

      Mit welcher Überfahrt?

      Die drei letzten Fragen werden bei den Appellen gestellt. Und die ersten – jeden Tag mehrmals.

      Der Mensch mag sich nicht an das Schlechte erinnern. Man erinnert sich öfter an das Gute. Das ist eines der weisen Gesetze des Lebens, ein Element der Anpassung wohl und des Glättens scharfer Kanten[34]. »Wenn ihr einem jeden begegnen wolltet, wie er’s verdient, wer würde dem Staup-Besen entgehen.«* Diese Hamlet-Worte sind kein Scherz, kein Bonmot. Wenn der Mensch nicht imstande wäre zu vergessen, wer könnte dann leben. Die Kunst zu leben ist die Kunst zu vergessen.

      Das ist der Grund, warum unter sehr schwierigen Bedingungen keine Freundschaft geknüpft[35] wird. Und an sehr schwierige Bedingungen keiner zurückdenken möchte. Freundschaft knüpft man in Situationen »mittlerer Schwierigkeit«, wenn das Fleisch auf den menschlichen Knochen noch ausreicht. Das letzte Fleisch aber nährt nur zwei Gefühle: Erbitterung oder Gleichgültigkeit.

      Alles, wovon ich erzählen werde, wird zwangsläufig geglättet und abgemildert sein.

      Die Zeit wird die wahre Größenordnung einer Begebenheit nur verzerren.

      In Moskau waren schon ermordet: Tuchatschewskij, Jakir, Dsidsijewskij und Schmidt*. Jeshow hatte auf einer Sitzung des Zentralen Exekutivkomitees schon in einem drohenden Vortrag gesagt, in den Arbeitslagern sei »die Disziplin erschlafft«, in Zeitungsartikeln fanden sich immer häufiger Sätze über die »physische Vernichtung des Feindes«, »über die Notwendigkeit der Liquidierung der Trotzkisten«, während das Goldbergwerk, in das wir kamen, noch das frühere »glückliche« Leben lebte.

      Den Ankömmlingen wurde eine neue Wintermontur ausgegeben. In der Schuhmacherei stand ein Fass mit Lebertran, aus dem man auch das Schmiermittel schöpfte. Den Ankömmlingen gab man eine dreitägige Ruhepause und machte sie mit der »Produktion« bekannt – Grube, Schaufel, Hacke, Fördersteg und Schubkarre.

      Die Maschine des OSO* —

      zwei Griffe, ein Rad.

      Die Sanitätsstelle war leer. Die Neulinge interessierten sich nicht einmal für diese Einrichtung.

      Die Arbeit – ein Profil öffnen, Sprengungen[36], Abtransport per Hand in den Bunker, von wo aus Pferdeloren alles zur Waschtrommel[37] schaffen, der Waschvorrichtung.

      Schwere Arbeit, dafür lässt sich viel verdienen – bis zu zehntausend Rubel in einem Monat der Sommersaison. Im Winter weniger. Bei großer Kälte, über 50 Grad, wird nicht gearbeitet. Im Sommer arbeitet man zehn Stunden mit Schichtpause alle zehn Tage. Die Ruhepause wird »angespart« und dann vorschussweise am 1. Mai und »auf Abrechnung« am 7. November »überreicht«.* Im Dezember wird sechs, im Januar vier, im Februar sechs, im März sieben, im April acht, im Mai und dem ganzen Sommer zehn [Stunden] gearbeitet.

      »Wenn ihr gut arbeitet, könnt ihr etwas nach Hause schicken«, sagten die »Inspektoren« den Neulingen während der Führung.

      Rationen gab es dreierlei – die Stachanow-, die Stoßarbeiter- und die Produktionsration. Bei der Stachanowration gab es drei Kilo Brot und gutes warmes Essen. Bei Normerfüllung von 110 % gab es die Stoßarbeiterration und von 100 % und darunter die Produktionsration —achthundert Gramm Brot und weniger Gerichte.

      Die medizinische Untersuchung teilte alle in vier Kategorien ein.

      Die vierte – Gesunde.

      Die dritte – die nicht vollkommen Gesunden, aber Leute, die für jede physische Arbeit taugen.

      Die zweite – lft (leichte physische Tätigkeit).

      Die erste – Invaliden.

      Ein Häftling mit der zweiten Kategorie hatte Anrecht auf einen Nachlass von 30 %. Darum tauchten »Stachanowarbeiter der Krankheit« auf, die Hilfsarbeiten erledigten und einen Nachlass bei der Festlegung der Ration bekamen.

      Die ungünstigste war die dritte Gruppe – meist eine Gruppe von Menschen der intellektuellen Arbeit.

      Das waren die Bersinschen Regeln, die noch bestanden, als unsere Etappe im »Partisan« ankam.

      Schon war in Moskau Bersins Schicksal entschieden. Schon wurden die Befehle vom neuen Wein in alten Schläuchen[38] vorbereitet und vervielfältigt.

      Schon wurde eine Instruktion vorbereitet, wodurch die alten Schläuche zu ersetzen wären.

      All das brachten uns Feldjäger an die Kolyma hinterher.

      Die Disziplin war so, dass dem Häftling kein Haar ausfällt, wenn es Moskau nicht befiehlt. Moskau weiß alles und entscheidet das Schicksal jedes der Millionen Häftlinge.

      Die Entscheidung wird im Zentrum gefällt und geht »auf dem Befehlsweg« nach unten, an die Peripherie.

      Was ist hier am Werk – eine Kettenreaktion oder das Reibungsgesetz? Weder noch. Alle fürchten sich, alle führen die Befehle von oben aus. Alle sind bemüht, sie zu erfüllen. Und das Erfüllen zu vermelden.

      Natürlich sind hier Leben und Tod realer. Ein schmächtiger Journalist schreibt in Moskau einen vernichtenden Artikel über die Liquidierung der Feinde, und an der Kolyma nimmt ein Ganove eine Brechstange und bringt einen Alten, einen »Trotzkisten« СКАЧАТЬ



<p>33</p>

der Stacheldraht – колючая проволока

<p>34</p>

das Glätten scharfer Kanten – сглаживание острых углов

<p>35</p>

Freundschaft knüpfen – завязать дружбу

<p>36</p>

die Sprengung – взрыв

<p>37</p>

die Waschtrommel – промывочный барабан

<p>38</p>

neuer Wein in alten Schläuchen – (Еванг.) новое вино в ветхие мехи