Die weltgeschichtliche Bedeutung des deutschen Geistes. Eucken Rudolf
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      Die weltgeschichtliche Bedeutung des deutschen Geistes

      Wir alle wissen, daß wir uns heute in einem Riesenkampf um unsere Existenz befinden, und wir wissen auch, daß dabei sehr unwürdige Mittel seitens unserer Feinde angewandt werden. Eins dieser unwürdigen Mittel ist die Herabsetzung des deutschen Wesens, die Verleumdung, wir wären ein reaktionäres Volk, wir wären Gegner der Freiheit und Knechte eines drückenden Militarismus, der die ganze Welt unterwerfen wolle. So scheint es, als könne Deutschland und deutsches Wesen ohne Schaden für die Menschheit ausgerottet werden. Gegenüber solcher Anfeindung müssen wir uns auf uns selbst besinnen, es gilt klarzumachen, daß wir mehr sind, als jene meinen, daß wir eine weltgeschichtliche Bedeutung haben, die uns aller Neid und Haß der Feinde nicht rauben kann.

      Um diese weltgeschichtliche Bedeutung der deutschen Art zu ermitteln, müssen wir zunächst überhaupt ihre Eigentümlichkeit untersuchen; diese Eigentümlichkeit ist aber nicht ganz einfach und leicht zu fassen. Denken wir nur an das 19. Jahrhundert und seinen Verlauf. Wie hat sich scheinbar das Wesen der Deutschen in ihm verändert! Ja, es mag auf den ersten Anblick scheinen, als enthielte unser Wesen einen Widerspruch, einen Widerspruch, dessen Schroffheit alle wahrhaftige Größe hindern müßte.

      Zu Anfang des 19. Jahrhunderts hießen wir das Volk der Dichter und Denker, damals hat man uns wohl die Inder Europas genannt. Heute sind wir das Volk der Techniker, des welterobernden Handels, der großartigen Industrie, heute hat man uns wohl die Amerikaner Europas genannt. Inder und Amerikaner, das sind gewaltige Gegensätze. – In der Tat waren wir zu Anfang des 19. Jahrhunderts ein Volk, das in Literatur und Philosophie den Kern der geistigen Arbeit fand. Wir flüchteten uns damals aus der sichtbaren Welt in ein unsichtbares Reich des Gedankens und der Phantasie, diese unsichtbare Welt wurde uns zur vertrauten Heimat.

      Aber daß das so kam, das hatte besondere Gründe. Der Dreißigjährige Krieg hatte uns bis aufs äußerste erschöpft, es dauerte lange, bis wir wieder in einen frischen und kräftigen Aufstieg kamen. Dieser Aufstieg erfolgte im 18. Jahrhundert, und zwar seit den dreißiger und vierziger Jahren; nun fand aber die erwachende Kraft keinen Staat und auch kein wirtschaftliches Leben, das Seele und Arbeit gewinnen konnte. Deutschland war überaus zersplittert, seine Verhältnisse waren nicht eigentlich schlecht, aber kleinlich und dürftig, sie gewährten keinen Boden für eine nationale und politische Tätigkeit. So wandte sich das deutsche Streben zum Reich der Wissenschaft und der Kunst, so schuf man sich jene unsichtbare Welt, in der man das innerste Wesen des Menschen zu erfassen und zu gestalten suchte, alle Seelenkräfte sollten hier belebt und zu voller Harmonie verbunden werden. Man fand in der eigenen Bildung sowie im Verhältnis von Mensch zu Mensch, in Liebe und Freundschaft ein edles, feines, zartes Leben, demgegenüber die sichtbare Welt als eine niedere Stufe erschien. So konnte ein Friedrich Schlegel sagen:

      „Nicht in die politische Welt verschleudere du Glauben

      und Liebe, aber in der göttlichen Welt der Wissenschaft

      und der Kunst opfere dein Innerstes in den heiligen

      Feuerstrom ewiger Bildung“;

      ein Schiller aber mahnen:

      „Werft die Angst des Irdischen von euch,

      Flüchtet aus dem engen, dumpfen Leben

      In des Ideales Reich“;

      das Reich der Ideale war die unentbehrliche Zuflucht hochstrebender, edler Seelen. Bei Würdigung dessen muß uns immer die besondere Lage gegenwärtig sein, welche dem deutschen Geist keine andere Betätigung großen Stiles erlaubte.

      Nun kam die Wandlung im 19. Jahrhundert, zunächst hervorgerufen durch den jähen Zusammenbruch des preußischen Staates bei Jena, durch die daraus erwachsende Erfahrung, daß aller Glanz von Kunst und Wissenschaft ein Volk nicht bewahrt vor nationaler Erniedrigung, vor schmählicher Abhängigkeit von Fremden; die Bewegung, die damals entsprang, ist trotz aller Hemmungen unablässig vorgedrungen. Wir haben uns der sichtbaren Welt zugewandt, und wir haben in dieser Welt Gewaltiges geleistet. Namentlich die dreißiger Jahre brachten die neue Denkweise ins Übergewicht. Die alten Helden sterben, ein Hegel, ein Goethe, ein Schleiermacher, vorher schon Pestalozzi; dafür steigen neue auf. Liebig gründet 1826 das erste moderne chemische Laboratorium, in Berlin hält Alexander von Humboldt 1827/28 in der Universität und in der Singakademie die Vorlesungen über physische Weltbeschreibung, welche die Naturwissenschaften als allgemein-bildende Macht zur Geltung bringen. Dann kamen die technischen Fortschritte, vor allem die Eisenbahnen, und für das wirtschaftliche Leben war es von höchster Bedeutung, daß am 1. Januar 1834 der deutsche Zoll- und Handelsverein ins Leben trat. Ein neues Deutschland erhob sich, und wir wissen, was dieses neue Deutschland geleistet hat.

      Nun aber kommen die Gegner. Seht, sagen sie, der Deutsche ist sich selber untreu geworden, warum blieb er nicht beim Dichten und Denken? Ja, unsere Anspruchslosigkeit in der sichtbaren Welt war recht bequem für die anderen. Jean Paul hat einmal in bitterem Ernst gesagt: Nachdem die Engländer das Meer und die Franzosen das Land genommen haben, was bleibt uns Deutschen anderes als die Luft? Daß später ein Zeppelin kommen und die Deutschen in Wirklichkeit zu Herren der Luft machen werde, das konnte man damals nicht wissen. So konnte auch Schiller in dem bekannten Gedicht zum Antritt des neuen Jahrhunderts nach Schilderung der Herrschgier des Franzosen und des Briten uns nur die Flucht in die heilig-stillen Räume des Herzens empfehlen. Das kam den anderen Völkern recht gelegen, von allen Seiten ernteten wir Lob. Noch im Jahre 1837 hat Bulwer, der bekannte englische Romanschriftsteller, einen großen Roman „Maltravers“ dem großen deutschen Volke gewidmet, dem „Volk der Denker und Kritiker“. Heute stellen wir uns den fremden Völkern anders dar.

      Aber sind wir von uns selber abgefallen, wenn wir uns der sichtbaren Welt zuwandten, wenn wir zu Lande und zu Wasser eine Macht entfalten, wenn wir in der Industrie, in der Technik die Führung übernehmen? Haben wir damit unser wahres, innerstes Wesen verleugnet? Nein und abermals nein. Wir sind nicht von uns selber abgefallen, sondern wir haben einen wesentlichen Zug unserer eigenen Natur, der von jeher da war, wieder neu belebt und ihn dabei zu einer Höhe gebracht wie nie zuvor. Denn wir sind keineswegs ein Volk bloßer Dichter und Denker, was doch leicht heißt: der Träumer und Schwärmer, wir sind in die Geschichte eingetreten als ein waffenfähiges, kriegerisches Volk, wir haben das große Römerreich zerstört, und wir haben es nicht bloß zerstört, wir haben auf seinen Trümmern neue Reiche aufgerichtet, wir haben ein römisch-deutsches Kaiserreich geschaffen. Schon damit haben wir gezeigt, daß wir in der sichtbaren Welt ganz wohl etwas leisten können.

      Wir waren dabei nicht bloß tapfere Krieger, wir waren groß auch in den Werken des Friedens. Denken wir an die deutschen Städte, die Städte des Mittelalters, denken wir an den deutschen Landbau, dessen treuer Fleiß und zähe Tüchtigkeit von der ganzen Welt anerkannt wird. Wir haben unsere Arbeit in alle einzelnen Gebiete hinein erstreckt, wir haben uns dabei überall in die besondere Natur des Gegenstandes eingelebt. Denken wir nur an das Forstwesen – wenn die Engländer oder die Amerikaner ihre Forsten in die Höhe bringen wollen, so rufen sie Deutsche herbei –, oder an das Bergwesen; hier wie dort ist die sorgsame Durchbildung des Gebietes ein Werk der deutschen Art.

      Wir hatten Freude an dieser Arbeit, an dem Ringen mit Widerständen, und wir verfolgten dabei nicht bloß betretene Wege, wir vermochten auch neue zu schaffen. Wir waren das Volk der Erfinder. Wir erfanden die Buchdruckerkunst – jedenfalls für Europa –, wir standen frühe voran im modernen Geschützwesen, das jetzt mit seiner großartigen Ausbildung ein Grund nationaler Hoffnung wird. Zu Beginn der Neuzeit konnte es heißen:

      „Nürnberger Witz,

      Ulmer Geschütz,

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