Название: Anna Karenina
Автор: Leo Tolstoi
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783754188637
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Ljewin dachte auch daran, wie damals, als Nikolai sich in der Periode der Frömmigkeit, der Fasten, der Möncherei, des Kirchenbesuches befunden und in der Religion eine Hilfe, einen Zügel für seine leidenschaftliche Natur gesucht hatte, wie ihm damals niemand eine Stütze gewesen war, ja im Gegenteil alle, und auch er selbst, sich über ihn lustig gemacht hatten. Sie hatten ihn gehänselt, ihn den Vater Noah und den Mönch genannt, aber als es ihn später gepackt hatte, da hatte ihm niemand geholfen, sondern alle hatten sich voll Entsetzen und Abscheu von ihm abgewandt.
Ljewin sagte sich, daß sein Bruder Nikolai, trotz aller Schlechtigkeit seines Lebenswandels, im tiefsten Grunde seiner Seele nicht schuldiger war als die Leute, die ihn verachteten. Es war nicht seine Schuld, daß er mit einem unbändigen Charakter und einem etwas beschränkten Verstande geboren war. Aber er war immer bestrebt gewesen, ein guter Mensch zu sein. ›Ich will ganz offen mit ihm reden; ich will ihn dazu bringen, mir alles frei heraus zu sagen, und will ihm zeigen, daß ich ihn liebe und ihn darum auch verstehe‹, das nahm sich Ljewin vor, als er nach zehn Uhr in seiner Droschke bei dem Gasthause ankam, in dem der Anschrift zufolge Nikolai wohnen sollte.
»Oben, in Nummer zwölf und dreizehn«, antwortete der Pförtner auf Ljewins Frage.
»Ist er zu Hause?«
»Doch wohl.«
Die Tür von Nummer zwölf war halb geöffnet; von innen drang mit einem Lichtstreifen zugleich ein dichter Qualm von schlechtem, schwachem Tabak heraus, und Ljewin vernahm eine ihm unbekannte Stimme. Aber er merkte sofort, daß auch sein Bruder anwesend war, denn er hörte dessen Hüsteln.
Als er durch die Außentür in einen kleinen Vorraum trat, der vom Zimmer durch eine spanische Wand getrennt war, sagte die unbekannte Stimme gerade:
»Es wird alles davon abhängen, ob die Sache mit Vernunft und Verständnis betrieben wird.«
Konstantin Ljewin blickte durch die in der Zwischenwand befindliche Tür, die gleichfalls offenstand, ins Zimmer und sah, daß der Redende ein junger Mann mit gewaltigem Haarschopfe, in einer Jacke ohne Ärmel war. Ein junges, pockennarbiges Frauenzimmer in einem wollenen Kleide ohne Manschetten und Kragen saß auf dem Sofa. Der Bruder war nicht zu erblicken. Konstantins Herz zog sich schmerzlich zusammen bei dem Gedanken, unter was für fremden Leuten sein Bruder da lebte. Niemand hatte ihn kommen hören, und Konstantin zog sich die Gummischuhe aus und hörte dabei zu, was der Herr in der ärmellosen Jacke sagte. Er redete von irgendeinem Unternehmen.
»Hol sie der Teufel, diese bevorrechtigten Klassen!« ließ sich nun auch, unter stetem Husten, die Stimme des Bruders vernehmen. »Marja, besorge uns etwas zum Abendessen und gib uns Wein, wenn noch welcher da ist; sonst laß holen!«
Die Frau stand auf, ging durch die Zwischentür und erblickte Konstantin.
»Ein Herr ist hier, Nikolai Dmitrijewitsch«, sagte sie.
»Zu wem wollen Sie?« fragte Nikolais Stimme in ärgerlichem Tone.
»Ich bin es«, antwortete Konstantin und trat ins Helle.
»Was für ein Ich?« fragte wieder Nikolais Stimme noch ärgerlicher. Es war zu hören, daß er schnell aufstand und dabei an irgend etwas anstieß, und dann erblickte Konstantin vor sich in der Zwischentür die ihm so wohlbekannte und ihn doch durch ihr verwildertes und kränkliches Aussehen überraschende Gestalt seines Bruders: von gewaltiger Größe, hager, gebückt, mit großen, verstörten Augen.
Er war noch magerer als vor drei Jahren, da ihn Konstantin Ljewin zum letzten Male gesehen hatte. Er trug einen kurzen Rock, wodurch seine Hände und der breite Knochenbau des Oberkörpers noch riesiger erschienen. Das Haar war dünner geworden, derselbe gerade Schnurrbart wie früher verdeckte die Lippen, dieselben Augen blickten sonderbar kindlich den Eintretenden an.
»Ah, Konstantin!« sagte er auf einmal, als er seinen Bruder erkannte, und seine Augen leuchteten freudig auf. Aber im gleichen Augenblick wandte er sich nach dem jungen Manne um und machte mit dem Kopfe und dem Halse eine seinem Bruder wohlbekannte Bewegung, als ob ihn die Halsbinde belästige, und nun erschien auf seinem abgemagerten Gesichte ein ganz anderer, scheuer, leidender, trotziger Ausdruck.
»Ich habe sowohl Ihnen wie Sergei Iwanowitsch geschrieben, daß ich Sie beide nicht kenne und nicht kennen will. Was willst du ... was wollen Sie von mir?«
Sein Wesen war doch ganz anders, als es sich Konstantin vorher vorgestellt hatte. Die unangenehmste und schlimmste Eigenheit seines Charakters, die jeden Umgang mit ihm so sehr erschwerte, hatte Konstantin, als er sich seinen Bruder vergegenwärtigte, vergessen gehabt, und erst jetzt, als er sein Gesicht und namentlich diese krampfhafte Kopfdrehung sah, kam ihm das alles wieder ins Gedächtnis.
»Ich will eigentlich nichts von dir«, antwortete er schüchtern. »Ich bin nur gekommen, um dich einmal wiederzusehen.«
Durch die Schüchternheit seines Bruders ließ sich Nikolai offenbar milder stimmen. Er zuckte mit den Lippen.
»Soso; nun, wie geht es dir?« sagte er. »Na, dann komm herein und setz dich! Willst du mit uns Abendbrot essen? Marja, bring drei Portionen. Nein, warte noch! Weißt du, wer das ist?« fragte er seinen Bruder, indem er auf den Herrn in der Jacke zeigte. »Das ist Herr Krizki, ein Freund von mir, noch aus der Kiewer Zeit, ein sehr bedeutender Mann. Selbstverständlich verfolgt ihn die Polizei, weil er kein Schuft ist.«
Und wie das von jeher seine Gewohnheit gewesen war, blickte er alle im Zimmer Anwesenden der Reihe nach an. Als er sah, daß die Frau, die in der Tür stand, nun eine Bewegung machte, um hinauszugehen, schrie er ihr zu: »Du sollst warten, habe ich gesagt!« Und in jener ungeschickten, verworrenen Redeweise, die Konstantin so gut an ihm kannte, begann er, indem er seine Blicke wieder bei allen umherwandern ließ, seinem Bruder Krizkis Lebensschicksale zu erzählen: wie er von der Universität verwiesen sei, weil er Sonntagsschulen und einen Verein zur Unterstützung armer Studenten gegründet habe, und wie er dann eine Stelle als Volksschullehrer angenommen habe, und wie er auch von da weggejagt und endlich noch aus irgendwelchem Grunde vor Gericht gekommen sei.
»Sie haben in Kiew studiert?« fragte Konstantin Herrn Krizki, um das unbehagliche Schweigen, das eingetreten war, zu unterbrechen.
»Jawohl, in Kiew«, erwiderte Krizki, ärgerlich die Stirn runzelnd.
»Und dieses Weib hier«, unterbrach ihn Nikolai und wies auf die Frauensperson, »ist meine Lebensgefährtin, Marja Nikolajewna. Ich habe sie aus so einem gewissen Hause weggeholt«, er machte wieder einen Ruck mit dem Halse, während er das sagte. »Aber ich liebe und achte sie, und ich ersuche alle, die mich kennen wollen«, fügte er mit erhobener Stimme und finsterem Gesichte hinzu, »sie ebenfalls zu lieben und zu achten. Sie ist ganz dasselbe, wie wenn sie meine Frau wäre. So, nun weißt du, wen du vor dir hast. Und wenn du meinst, daß du dich durch den Verkehr mit einem von uns erniedrigst, dann Gott befohlen, СКАЧАТЬ