Название: Der Idiot
Автор: Fjodor Dostojewski
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783754188651
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»Sie wollen es wohl aus Schonung für uns unterlassen?« fragte Aglaja spöttisch.
»Das nicht; aber ich möchte es nicht, weil ich von dieser Hinrichtung schon vorhin erzählt habe.«
»Wem haben Sie denn davon erzählt?«
»Ihrem Kammerdiener, während ich wartete.«
»Welchem Kammerdiener?« erscholl es von allen Seiten. »Nun, dem, der da im Vorzimmer sitzt, mit dem grauen Haar und dem rötlichen Gesicht; ich habe im Vorzimmer gesessen, bis ich zu Iwan Fjodorowitsch hineingehen durfte.«
»Das ist sonderbar«, bemerkte die Generalin.
»Der Fürst ist ein Demokrat«, erklärte Aglaja kurz.
»Nun, wenn Sie es Alexei erzählt haben, können Sie es uns auch nicht abschlagen.«
»Ich will es unter allen Umständen hören«, wiederholte Adelaida ihr Verlangen.
»Als Sie mich vorhin nach einem Gegenstand für ein Gemälde fragten«, wandte sich der Fürst zu ihr (er hatte sehr schnell und zutraulich wieder Mut gefaßt), »da kam mir wirklich der Gedanke, Ihnen einen solchen an die Hand zu geben: das Gesicht eines Verurteilten zu zeichnen, eine Minute vor dem Niederfallen des Beiles der Guillotine, wenn er noch auf dem Schafott steht, also bevor er sich auf das Brett legt.«
»Das Gesicht? Nur das Gesicht?« fragte Adelaida. »Das wird ein sonderbarer Gegenstand sein; was wird denn dabei für ein Bild herauskommen?«
»Ich wüßte nicht, warum man das nicht zeichnen sollte«, versetzte der Fürst beharrlich und eifrig. »Ich habe unlängst in Basel ein solches Bild gesehen. Ich würde es Ihnen sehr gern beschreiben ... Ich werde es auch ein andermal tun ... Es hat mir einen starken Eindruck gemacht.«
»Das Baseler Bild müssen Sie mir jedenfalls später einmal beschreiben«, sagte Adelaida. »Jetzt aber verdeutlichen Sie mir, bitte, das Bild von der Hinrichtung! Können Sie es so schildern, wie Sie es sich vorstellen? Wie soll man dieses Gesicht zeichnen? Das Gesicht allein? Wie sieht denn dieses Gesicht aus?«
»Es war genau eine Minute vor dem Tod«, begann der Fürst sehr bereitwillig (er schien von seinen Erinnerungen ganz hingerissen zu sein und sogleich alles übrige zu vergessen), »in dem Augenblick, wo er die Stufen hinaufgestiegen war und soeben das Schafott betreten hatte. Da blickte er nach der Seite hin, wo ich stand; ich sah ihm ins Gesicht und verstand alles ... Freilich, wie kann ich das mit Worten wiedergeben? Ich würde innig wünschen, daß Sie oder sonst jemand das zeichneten! Das beste wäre, wenn Sie es täten! Ich dachte gleich damals: ein solches Bild wird nützlich sein. Wissen Sie, man müßte darin alles zur Darstellung bringen, was vorhergegangen war, alles, alles. Er hatte, wie ich hörte, im Gefängnis gesessen und seine Hinrichtung frühestens in einer Woche erwartet; er rechnete auf die gewöhnlichen Formalitäten, darauf, daß das Todesurteil noch irgendwohin ge schickt werden müsse und erst nach Ablauf einer Woche wieder zurückkommen werde. Aber diesmal nahm durch irgendeinen Zufall die Sache einen kürzeren Lauf. Um fünf Uhr morgens schlief er noch. Es war Ende Oktober; um fünf Uhr ist es da noch kalt und dunkel. Der Gefängnisaufseher trat, von einer Schildwache begleitet, leise herein und berührte sacht seine Schulter; er richtete sich halb auf, stützte sich auf den Ellbogen und sah das Licht: ›Was gibt's?‹ – ›Um zehn Uhr ist die Hinrichtung.‹ Verschlafen, wie er war, konnte er es nicht glauben und wollte Einwendungen machen: das Urteil werde erst in einer Woche zurückkommen. Aber sobald er völlig wach geworden war, hörte er auf zu streiten und schwieg. So erzählte man. Dann sagte er: ›Es ist doch schrecklich, so plötzlich ...‹ und verstummte wieder und vermochte nun kein Wort mehr zu sagen. Nun vergehen drei, vier Stunden, die durch die bekannten Dinge ausgefüllt werden: durch den Besuch des Geistlichen, durch das Frühstück, bei dem ihm Wein, Kaffee und gebratenes Rindfleisch gereicht werden (aber ist das nicht der reine Hohn? Bei einiger Überlegung sagt man sich ja, welche Grausamkeit darin liegt; aber andererseits handeln diese harmlosen Leute in bester Meinung und sind überzeugt, daß das Humanität ist); dann folgt die Toilette (Sie wissen wohl, worin die Toilette eines Hinzurichtenden besteht); schließlich fährt man ihn durch die Stadt zum Schafott ... Ich denke mir, daß er, auch während er so fuhr, die Vorstellung gehabt hat, es bleibe ihm noch eine endlose Zeit zum Leben übrig. Ich glaube, er hat unterwegs gewiß gedacht: ›Es dauert noch lange; noch drei Straßen lang habe ich zu leben; jetzt fahre ich durch diese, dann kommt noch jene, dann noch jene, wo rechts der Bäckerladen ist ... es ist noch eine ganze Weile, bis wir zu dem Bäckerladen kommen!‹ Ringsumher eine Menge Volk, Geschrei, Lärm, zehntausend Gesichter und Augenpaare – all das muß er ertragen, und das ärgste ist der Gedanke: ›Da sind nun zehntausend Menschen, und keiner von ihnen wird hingerichtet; aber ich werde hingerichtet!‹ Nun, das ist alles erst die Vorbereitung. Auf das Schafott führte eine kleine Treppe hinauf; vor dieser Treppe brach er plötzlich in Tränen aus, und dabei war er ein starker, kräftiger Mann, ein gewalttätiger Verbrecher, wie man sagte. Die ganze Zeit über war beständig der Geistliche bei ihm; er fuhr auch auf dem Wagen neben ihm und redete fortwährend; der Verurteilte hörte kaum hin, und wenn er anfing zuzuhören, so verstand er vom dritten Wort an nichts mehr. So muß das wohl gewesen sein. Endlich begann er die Treppe hinanzusteigen; da ihm die Füße gefesselt waren, konnte er nur ganz kleine Schritte machen. Der Geistliche, wohl ein verständiger Mensch, sprach nicht mehr, sondern hielt ihm immer ein Kruzifix zum Küssen hin. Schon am Fuß der Treppe war er sehr blaß; als er aber hinaufgestiegen war und auf dem Schafott stand, wurde er auf einmal weiß wie ein Blatt Papier, ganz wie ein Blatt weißes Schreibpapier. Wahrscheinlich wurden ihm die Beine schwach und steif, und es wandelte ihn eine Übelkeit an, wie wenn er in der Kehle ein Würgen und infolgedessen eine Art Kitzel fühlte – haben Sie diese Empfindung nicht auch schon manchmal bei Schreck oder in besonders furchtbaren Augenblicken gehabt, wenn der ganze Verstand zwar noch da ist, aber keine Kraft mehr hat? Ich meine, wenn einem beispielsweise unentrinnbares Verderben droht, das Haus über einem zusammenstürzt, dann bekommt man auf einmal ein schreckliches Verlangen, sich hinzusetzen und die Augen zu schließen und zu warten: komme, was kommen mag ...! Da nun, als diese Schwäche begann, hielt ihm der Geistliche auf einmal ganz schnell, mit einer raschen Bewegung und ohne ein Wort zu sagen, das Kruzifix dicht an die Lippen (es war so ein kleines, silbernes Kruzifix), und das tat er zu wiederholten Malen, alle Augenblicke. Und sowie das Kruzifix seine Lippen berührte, öffnete er jedesmal die Augen und schien sich wieder für ein paar Sekunden zu beleben, und die Beine gingen weiter. Das Kruzifix küßte er begierig und hastig, als beeile er sich, für jeden Fall eine Art von Reisevorrat mitzunehmen; aber schwerlich hatte er in diesem Augenblick irgendwelche frommen Gedanken. So ging es, bis er dicht bei dem Brett war ... Es ist merkwürdig, daß nur selten ein Verurteilter in diesen letzten Sekunden in Ohnmacht fällt! Im Gegenteil ist der Kopf sehr lebendig und arbeitet wahrscheinlich mit aller Kraft, mit aller Kraft, wie eine in Gang befindliche Maschine; ich stelle mir vor, daß allerlei Gedanken darin nur so pochen, unvollendete und vielleicht auch lächerliche, fremdartige Gedanken: ›Der Mensch, der da zusieht, hat eine Warze auf der Stirn; an dem Rock des Scharfrichters ist unten der eine Knopf verrostet ...‹, und dabei weiß man alles und erinnert sich an alles; und da ist ein Punkt, den man auf keine Weise vergessen kann, und in Ohnmacht fallen kann man auch nicht, und alles dreht und bewegt sich um ihn, um diesen Punkt. Und wenn man nun bedenkt, daß das so bis zur letzten Viertelsekunde fortgeht, wo der Kopf schon auf dem Brett liegt und wartet und ... weiß, was kommen wird, und auf einmal über sich das Geräusch gleitenden Eisens hört! Das hört man unbedingt! Ich, wenn ich daläge, ich würde absichtlich darauf aufpassen und danach hinhören! Dieses Geräusch dauert vielleicht nur den zehnten Teil eines Augenblicks; aber man hört es unbedingt! Und nun denken Sie sich, daß man bis auf den heutigen Tag darüber streitet, ob nicht möglicherweise der Kopf, wenn er abgeschlagen ist, noch vielleicht eine Sekunde lang weiß, daß er abgeschlagen ist – welch eine Vorstellung! Und wie, wenn er es gar fünf Sekunden СКАЧАТЬ