Название: Auf Biegen oder Brechen
Автор: Thomas Hölscher
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783750218949
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Dieses Phantombild erschien am Donnerstag, dem 9.Mai 1985, zum ersten Mal in der Zeitung. Trotz der Saure-Gurken-Zeit beließ es die Presse bei der sachlichen Darstellung der polizeilichen Informationen: Es bestand der dringende Verdacht, dass der Mord auf der Brückstraße und der an der Uni zusammenhingen; das Foto zeigte den mutmaßlichen Mörder.
4
Essen ist die fünftgrößte Stadt der Bundesrepublik. Maßgeblich für eine solche Zuordnung ist allein die Einwohnerzahl. Außerdem nennt Essen sich gerne "Herz des Ruhrreviers".
"Essen die Einkaufsstadt" prangt einem auf riesigen Lettern entgegen, wenn man den Hauptbahnhof verlässt, und genau so sieht die Innenstadt auch aus. Alles ist auf die Sorte Mensch zugeschnitten, die sich auf ein Dasein als Konsument reduzieren lässt.
Für das Herz des Ruhrreviers scheint das zu reichen. Es ist ein chaotisch zubetoniertes Herz, und der angebliche Stolz der Essener, das neue Rathaus, darf nicht nur für sich in Anspruch nehmen, das höchste in Deutschland zu sein. Es ist mit Sicherheit auch das hässlichste.
Geht man donnerstags-, freitags- oder samstagsabends vom Eingang des Hauptbahnhofs nach rechts entlang des Bahndamms über die zumeist wie ausgestorben wirkende Hollestraße in Richtung Steelerstraße, so kann man fast sicher sein, dass 80 Prozent der Männer, die einem begegnen, Schwule sind, die zwischen dem Hauptbahnhof und den beiden Schwulenkneipen auf der Hollestraße und der Steelerstraße hin- und herpendeln.
Es war ein ungewöhnlich warmer Samstagabend im Mai. Da für die meisten Menschen das Wochenende anscheinend in irgendeiner Weise die unerträglichen Arbeitstage vergessen machen muss, war auf den Straßen noch einiges los. Kurz vor Mitternacht kamen aus der Richtung Steelerstraße zwei nicht ganz nüchterne Männer langsam den Weg in Richtung Hauptbahnhof herauf. Sie gingen Arm in Arm, und unter jeder der den Bürgersteig beleuchtenden Neonlampen blieben sie stehen und küssten sich. Aber das schien niemanden zu interessieren.
Wie sich nur wenig später herausstellen sollte, schien das aber nur so: Sie hätten gerade das auf der rechten Seite liegende Grundstück eines Autoverleihs hinter sich gelassen, als Bernd gesagt habe, er müsse mal. In Höhe der Tankstelle hätten sie dann beide in das den Bahndamm begrenzende dichte Gebüsch gepinkelt. Mittendrin habe dann plötzlich jemand Bernds Namen gerufen. Bernd habe nur kurz "Ja" gesagt, sei aber noch nicht fertig gewesen, und der Unbekannte habe nochmals Bernds Namen gerufen. Da hätten sie sich dann einen Spaß daraus gemacht, sich mit offener Hose umzudrehen und auf den Bürgersteig zu pinkeln.
Der Unbekannte habe vor der weißgekachelten Wand der Tankstelle gestanden, dicht hinter ihm sei eine Lampe gewesen, so dass sein Gesicht nicht zu erkennen war. Auf jeden Fall sei er aber dunkelhaarig, habe einen Schnäuzer und sei ungefähr 1,70 groß. Er habe dann noch einmal Bernds Namen gesagt, oder eigentlich eher gefragt, so als habe er sich Sicherheit verschaffen wollen. Dann habe er aus der Tasche die Pistole gezogen und geschossen. Georg sei vornüber auf das Pflaster gekippt und habe grässlich gestöhnt. Ganz ruhig sei der Unbekannte zu ihm gegangen und habe ihn dann aus nächster Nähe in den Kopf geschossen.
Das war zunächst alles, was der Überlebende der beiden Männer den Beamten der Kripo an Ort und Stelle erzählen konnte. Der Mann war völlig verstört, er konnte alles das nicht begreifen: Der Unbekannte hatte ihm selber gar nichts getan, es war, als wäre er für den Unbekannten gar nicht da gewesen. Er konnte auch nicht sagen, wie lange das alles gedauert hatte. Alles sei so schnell gegangen, aber dabei habe der Unbekannte sich nicht etwa beeilt oder sei irgendwie hektisch gewesen: Das sei überhaupt das Schlimmste gewesen, diese Ruhe des Mörders. Geflüchtet, oder besser weggegangen sei der Mann in Richtung Bahndamm; er sei in das Gebüsch gegangen und die Böschung hochgelaufen. Die Beamten des Erkennungsdienstes sollten später die Spuren des Täters im lockeren Boden der Böschung auch schnell finden; sie nahmen Abdrücke davon und wussten seither, dass der Täter die Schuhgröße 43 hatte. Mehr wussten sie nicht, denn oben war die Spur dann im Gewirr der Gleisanlagen des Hauptbahnhofs verschwunden.
Es war, wenn man so will, ein Glücksfall, dass an diesem Samstagabend gerade dieser junge Beamte, Klaus Bergermann, K-Wache hatte. Er war vom 1.K., zuständig für Kapitalverbrechen, war mit seinen 28 Jahren einer der jüngsten Kommissare weit und breit - zumindest behauptete er das seit mittlerweile zwei Jahren - und war im vollen Bewusstsein seiner Verantwortung mit zitternden Knien zum Tatort gefahren, in der Hoffnung, dass die wichtigeren Kollegen, vor allem der Leiter des 1.K., auch an einem Samstagabend nicht unauffindbar sein konnten; eine Hoffnung, die von Minute zu Minute geringer wurde und den Berg heißer Kohlen, auf dem der junge Kommissar saß, wachsen ließ. Irgendwann wollte er selber in der Hierarchie der lebenslänglichen Ordnungshüter soweit oben stehen, dass das Fällen wichtiger Entscheidungen nicht mehr solche Magenbeschwerden verursachte.
Und für sein Weiterkommen tat er viel: Deshalb wusste er, vielleicht als einziger, von den drei Morden in Dortmund und Bochum, wusste von den Besonderheiten dieser drei Morde und schloss deshalb sofort, dass der Psychopath wieder am Werk gewesen war. Aber das Fällen von Entscheidungen ist eine ganz andere Sache als das Informiertsein; und dafür glaubte er sich in der Hierarchie noch zu weit unten. In seiner bisherigen Laufbahn bei der Kripo hatte er bei aller eventuell möglichen Kameradschaft unter Kollegen vor allem eines gelernt: Verantwortung wird delegiert. Klappt alles, heimst der Oberste die Lorbeeren ein; geht etwas schief, kriegt der Unterste einen Tritt in den Hintern.
Es war nun genau sieben Minuten nach Mitternacht. Nach Angaben des Zeugen war der Mord etwa gegen viertel vor zwölf geschehen. Sofort ließ sich Kommissar Bergermann den Fahrplan des Essener Hauptbahnhofs geben. Lag es nicht nahe, dass der Täter den Tatort mit dem Zug verlassen hatte? Vielleicht wollte Bergermann auch nur, dass der Täter so gehandelt hatte: Er musste einfach irgendetwas tun. Und gesetzt den Fall, der Täter hatte den Tatort nicht mit dem Zug verlassen, so wäre Bergermann völlig hilflos gewesen.
Da samstags der Zug um null Uhr nach Gelsenkirchen und Wanne nicht fuhr, war an regulären Zügen erst ein einziger abgefahren: Der Ost-West-Express über Gelsenkirchen, Dortmund und Hamm, allerdings schon um 23 Uhr 46. Bei einer angenommenen Tatzeit von 23 Uhr 45 war es mehr als fraglich, ob der Täter diesen Zug erreicht haben konnte. Als sich dann aber herausstellte, dass der Ost-West-Express in der heutigen Nacht mit 20 minütiger Verspätung von Essen losgefahren war, also vor ein bis zwei Minuten, hielt Kommissar Bergermann die Spannung nicht mehr aus: Er rief einem anderen Beamten zu, der solle die von 23 Uhr 45 bis jetzt von Essen abgegangenen S-Bahnen heraussuchen, lief an das Funksprechgerät im Wagen und rief die Einsatzleitstelle. Sofort sollten die Kollegen und die Bahnpolizei in Gelsenkirchen verständigt werden; dort müsse in etwa 8 Minuten der Ost-West-Express ankommen; der müsse auf jeden Fall aufgehalten werden, bis er selber mit dem Zeugen in Gelsenkirchen ankomme; es sei unbedingt darauf zu achten, dass keiner der Fahrgäste den Zug verließ.
Als er das sagte, wusste er gar nicht, ob er so ohne weiteres den Fahrplan der Deutschen Bundesbahn durcheinanderbringen durfte. Er glaubte aber schon. Außerdem war es ja nicht so ohne weiteres. Und diese Vorstellung beflügelte Bergermann derartig, dass nun auch keine S-Bahn mehr Essen verlassen sollte.
Denn die S-Bahn war das Problem: Seit viertel vor zwölf waren zwei S-Bahnen losgefahren, eine in Richtung Dortmund, die andere in Gegenrichtung, nach Duisburg. Als Fluchtweg lag die S-Bahn natürlich nahe: Sie hielt oft, und der Täter konnte davon ausgehen, dass die Polizei nicht an allen Haltepunkten präsent sein konnte. Oder er brauchte nur am ersten Haltepunkt auszusteigen; die Zeit für die Polizei war damit auf jeden Fall viel zu knapp: Es hatte also keinen Sinn mehr, Streifenwagen nach Steele und Frohnhausen zu schicken. Bei diesem Fluchtweg war der Täter längst auf СКАЧАТЬ