Название: Novellen und Erzählungen
Автор: Stefan Zweig
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783750290761
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Erika lag auf dem Sofa in ihrem dunkel heimlichen Zimmer, den Kopf in die Kissen gepreßt und weinte. Sie fand keine Tränen, aber sie spürte sie in sich verfließen, heiß, quellend und anklagend, und manchmal lief der jähe Schauer eines Schluchzens über ihren Körper. Sie fühlte, wie ihr diese schmerzvollen Minuten Erlebnis wurden, wie mit der ersten großen Enttäuschung sich das Leid tief in ihre Seele einsog, die sich ihm ahnungslos erschloß. Eigentlich bebte der Triumph in ihrem Herzen, daß ihr die Flucht gelungen war, noch im letzten entscheidenden Augenblicke, aber es wollte keine helle, blinkende Freude und kein Jubel werden, sondern blieb stumm wie ein Schmerz. Denn es gibt Naturen, in denen alle großen Ereignisse und alle überragenden Geschehnisse mit der allgemeinen Erschütterung der Seele auch die vorklingende dumpfe Saite einer verborgenen Schmerzlichkeit und innigen Melancholie anschlagen, deren Klingen so laut und drängend wird, daß alle anderen Stimmungen sich selbstlos in ihr auflösen. Und so war die Erika Ewald. Sie trauerte um ihre Liebe, die jung und schön gewesen war, wie ein spielendes Kind, das sich im Leben verliert. Und Scham war in ihr, heiße brennende Scham, daß sie entflohen war wie ein stummes hilfloses Wesen, statt ehrlich zu sein und zu ihm zu sprechen, kühl und mit herbem Stolz, dem er sich hätte fügen müssen. Und sie dachte an ihn und ihre Liebe mit einem so seligen Schmerz und einer heißen Ängstlichkeit, und alle Bilder kamen wieder und wirrten durcheinander, aber sie waren nicht mehr hell und froh, sondern dunkel beschattet von der Wehmut der Erinnerung.
Draußen ging eine Türe. Sie erschrak jäh und unvermittelt. Ängstlich horchte sie jedem Geräusch und suchte sich jede leise Klangerregung zu deuten in einem unbestimmten Gedanken, den sie nicht recht zu denken wagte.
Da trat ihre Schwester ein.
Erika war verwirrt. Sie erstaunte, daß sie nicht daran, nicht an das Nächstliegende gedacht hatte, daß ihre Schwester kommen müsse, und sie spürte wieder mit einem merkwürdigen Gefühle, wie fremd, wie ungeheuer fern ihr doch alle diese Leute waren, mit denen sie lebte.
Die Schwester begann sie über den Nachmittag zu fragen. Erika antwortete ungeschickt, und wie sie merkte, daß sie unsicher sei, wurde sie hart und ungerecht. Man sollte sie nicht immer mit Fragen belästigen, sie kümmere sich auch um niemanden. Und außerdem habe sie jetzt Kopfschmerzen und wolle Ruhe haben.
Die Schwester erwiderte nichts, sondern ging aus dem Zimmer. Mit einem Male fühlte Erika, wie ungerecht sie gewesen war. Und Mitleid empfand sie mit diesem stillen, schicksalsergebenen Wesen, das nichts erlebte und auch nicht bat darum, das nichts besaß vom Leben, nicht einmal einen reichen, adelnden Schmerz, wie sie selbst.
Das brachte sie wieder zu ihren Gedanken zurück. Und die zogen heran und verloren sich in der Ferne, schwere, schwarzbeschwingte Boote, die sich durch die dunkle Flut gerungen ohne Lärm und Rauschen, ohne Färbung und tiefeinschneidende Spur, nur von unbekannten und unsichtbaren treibenden Gewalten gesendet und gelenkt. Aber ihre trübe Stimmung zitterte in Erikas Seele fortschwingend dahin und löste sich nach dunkelschweren Stunden in einer Müdigkeit, der sie sich willenlos ergab.
Die nächsten Tage brachten für Erika nur Harren und Bangen. Im geheimen wartete sie auf einen Brief, eine Nachricht von seiner Hand; sie sehnte sich selbst nach einem Schreiben mit harten, unbarmherzigen Vorwürfen und zornigen Worten. Denn sie wollte einen Abschluß haben, ein Ende, das sich über die Vergangenheit legte und ihr das geheime Hinübertreten in ihre kommenden Tage verwehren sollte. Oder es sollte ein Brief sein mit milden, verstehenden Worten, die zu ihrer Seele gingen und sie wieder zurückführten in den Reigen der seligen Stunden, aus dem sie geschieden.
Aber keine Botschaft kam, kein Zeichen stellte sich zwischen sie und die quälende Ungewißheit. Denn Erika war noch viel zu sehr im Banne ihrer Empfindungen und Erregungen, um zu wissen, ob ihre Liebe zu ihm noch lebte oder ob sie schon gestorben war oder sich am Ende im Umwandlungszustande neuer Phasen befand, von denen sie noch nichts ahnte. Sie spürte nur die Unruhe und Verworrenheit in sich, die fortwährende Spannung, die sich nicht lösen wollte und in ihr gereizte und häßliche Stimmungen erweckte. Nervös und mit Kopfschmerzen ging sie in die Stunden, die ihr furchtbarer wurden als je, weil sie alles Falsche und Unharmonische viel schärfer spürte. Und jedes Geräusch irritierte sie, die Außenwelt wurde ihr unerträglich in ihrem lauten Hasten und Drängen, und selbst die eigenen Gedanken verloren ihre sanfte, wohltuende Traumhaftigkeit und bekamen harte einschneidende Spitzen. In jedem Dinge verbarg sich ihr eine geheime Feindseligkeit und eine trotzige Absicht, die sie verletzen wollte. Die ganze Welt, die sie umschloß, schien ihr nur mehr ein großes, dunkles Gefängnis mit tausend verborgenen Marterwerkzeugen und erblindeten Scheiben, die dem Lichte den Eingang verwehrten.
Und diese Tage waren ihr unerträglich lang und wollten kein Ende nehmen. Erika saß beim Fenster und wartete auf den Abend, der ihr ein wenig Frieden brachte mit der sanften Milderung aller Kontraste. Wenn die Sonne sich langsam hinter den Dächern zu senken begann, und immer matter und mehr abgedunkelt die Widerscheine nachzitterten, wurde alles in ihr stiller und ruhiger. Dann fühlte sie auch, daß ihr ganzes Denken und Fühlen jetzt anders und fremder werden wollte, daß neue Geschehnisse und neue Gefühle vor der Pforte ihres Lebens standen und lärmten und Einlaß begehrten. Aber sie achtete ihrer nicht, denn sie glaubte, die Regungen, die in ihr wuchsen und sich formten, seien nur die letzten verscheidenden Zuckungen ihrer sterbenden Liebe ...
So gingen zwei Wochen dahin, ohne daß Erika eine Nachricht von ihm empfangen hätte. Alles schien vorüber zu sein und vergessen. Ihre Traurigkeit und Unbeständigkeit verlor sich noch nicht, aber sie befreite sich von ihrer häßlichen, gereizten Form und fand verfeinerten und durchgeistigten Ausdruck. Die schmerzlichen Empfindungen lösten sich leise und lind in schwermütigen Liedern, Melodien mit tiefen, verhaltenen Mollklängen und melancholisch wehklingenden Akkorden. Manche Abende spielte sie so ohne Gedanken, sich in sanfter Abirrung vom eigentlichen Motive zu selbstgeschaffenen Verbindungen hinwendend, immer leiser und leiser werdend, wie die Geschichte ihrer so leidvollen Liebe, die nun langsam in Vergangenheit verrinnen wollte.
Auch begann sie wieder zu lesen. Jene herrlichen Bücher wurden ihr wieder nahe, denen die Schwermut entströmt wie ein schwerer betäubender Duft aus seltsam dunklen und melancholischen Blüten. Die Marie Grubbe kam ihr wieder zur Hand, der das harte Leben eine heilige und tiefinnige Liebe zerstört, und die unglückliche Madame Bovary, die nicht entsagen wollte und ihr schlichtes Glück verstieß. Und das unsägliche rührende Tagebuch der Maria Bashkirtscheff las sie, zu der die große Liebe nie gekommen war, ob ihr auch ein reiches und sehnsuchtsvolles Künstlerherz erwartungsvoll die Hände entgegenhielt. Und ihre gequälte Seele tauchte in diesem fremden Schmerze unter, um den eigenen zu verlieren und zu vergessen, aber manchmal kam ein Erschrecken über sie, in dem Furcht sich dem Stolze verschwisterte; denn Worte kamen ihren Blicken entgegen, die auch in ihrem eigenen Leben standen, und deren schicksalsschweren Sinn sie verstand. Und nun fühlte sie, wie ihre Geschichte nicht Ungerechtigkeit und Haß des Lebens verkündigte, sondern nur schmerzlich war, weil ihr der frohe Tänzerschritt eines lachenden unbedeutenden Temperamentes fehlte, der rasch vergessend die dunklen, aber geheimnisreichen Abgründe des Schmerzes überspringt. Nur ihre Einsamkeit senkte sich noch drückend auf sie herab. Niemand stand ihr nahe. Eine sonderbare Scham, sich mit ihren Tiefen und geheimen Schönheiten einem Fremden zu geben, hatte sie von allen Freundinnen abgewandt; und ihr fehlte auch der seligvertrauende Glaube der Frommen, der zu einem Gotte spricht und ihm die verschwiegensten Geständnisse zu eigen gibt. Der Schmerz, der von ihr ausging, floß wieder in ihre Seele zurück, und dieses unaufhörliche Sichselbstanvertrauen und Zergliedern gab ihr schließlich eine dumpfe Müdigkeit und hoffnungslose Trägheit, die nicht mehr mit dem Schicksal ringen wollte und mit seinen verborgenen Gewalten.
Sonderbare Gedanken überkamen sie, wenn sie vom Fenster auf die Gasse herabsah. Sie sah Leute in wildem Durcheinander, Liebespaare, die in seliger Versunkenheit vorübergingen, dann wieder hastende Burschen, vorbeischießende Radfahrer, rasch dahinrollende Wagen mit schwirrenden Rädern, Bilder des Tages und der Gewöhnlichkeit. Aber ihr war alles СКАЧАТЬ