Название: PORNO
Автор: grg grrgrg
Издательство: Bookwire
Жанр: Изобразительное искусство, фотография
isbn: 9783844287790
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Er sollte sich vielleicht bei Gelegenheit einmal mit der Geschichte der Familie Norwood befassen, überlegte er. In der feinen Gesellschaft des Landes wusste natürlich jede Familie von der anderen, seit wann sie welche Titel trug und welche Besitzungen ihr eigen nannte, aber er selbst spürte jetzt wieder, dass er doch eine Art Außenseiter war, der für solche Feinheiten wenig Gespür besaß. Genau genommen war sein Interesse an solchen Fragen auch nicht übermäßig ausgeprägt, er fand das Kreisen um Adelsfragen eher etwas albern und unzeitgemäß: Was bedeutete es angesichts politischer Umwälzungen, technischer Erfindungen und wirtschaftlicher Fortschritte schon, dass dieser oder jener Edelmann seine Abstammung auf einen normannischen Halbwilden zurückführen konnte?
Aber die Abbey war schön. Schöner als Oakwood, musste er zugeben. Obwohl das nicht gerade schwer zu bewerkstelligen war, denn Oakwood war nichts, was man gesehen haben musste – eher klein, durch die winzigen Fenster eben ziemlich düster, schwer heizbar und auch landschaftlich nicht übermäßig schön gelegen. Eigentlich seltsam, denn es war kaum mehr als eine Stunde zu Pferd von der Abbey entfernt, und die Abbey lag sehr reizvoll in der leicht hügeligen Landschaft.
Vielleicht lag es an dem finster bewaldeten Bergrücken, der unmittelbar hinter den Oakwoodschen Salonfenstern aufzuragen schien. Deprimierend.
Nun, er würde die Abbey, ihre Geschichte und die Geschichte der Norwoods ebenso im Auge behalten wie das Schicksal von Helen Norwood, auch wenn er im Moment noch nicht so recht wusste, wie er sie finden sollte.
6
Helen hatte sich sehr schnell bei Linny eingelebt und durchaus erkannt, dass diese über nur sehr geringe Mittel verfügte und sich durch feine Stickereien etwas hinzuverdiente. Allerdings war Helen selbst wirklich nicht gerade verwöhnt, denn die Norwoodschen Finanzen waren auch schon lange am Ende gewesen und man hatte in der Abbey – vor allem, wenn der Hausherr in London weilte, also nahezu ständig – von der Hand in den Mund gelebt. Außerdem hatte Miss Linhart seinerzeit auch der kleinen Helen die Kunst feiner Stickereien beigebracht, so dass sie nun – nach anfänglichen Protesten der Gastgeberin - einträchtig beieinander saßen und die Borten stickten, für die Madame Angéliques begehrte Kreationen berühmt waren.
Die Sonne fiel schwach durch die dünnen Vorhänge, die bescheidenen Möbel dufteten nach dem Bienenwachs, mit dem Linny sie poliert hatte, und Helen fand es hier viel, viel schöner und angenehmer als jemals in der Abbey, was sie ihrer ehemaligen Gouvernante auch sofort mitteilte.
„Ach Kindchen!“, mahnte Linny, ganz Gouvernante, sofort. „In Norwood Abbey warst du aber doch Lady Helen, angesehen in der besten Gesellschaft – und jetzt?“
„Lady Helen“, murmelte Helen, „und was hat mir das genützt? Ich ging ja nicht in Gesellschaft, weil sich mein Vater dafür nicht interessierte, wir hatten keinen Kontakt zu den Nachbarn, denn dann hätten wir sie schließlich auch einladen müssen und die Aufwendungen dafür hätten meinem Vater dann nur am Spieltisch gefehlt, die Abbey verkam immer mehr, weil wir kaum noch Personal hatten, und Geld gab es auch nicht. Ich glaube, hier bei dir habe ich zum ersten Mal seit Jahren ein Stück Fleisch bekommen. In der Abbey gab es das Brot, das Mrs. King gebacken hatte, und das Gemüse, das wir an einer versteckten Ecke des Parks angebaut hatten. Und ich kam mit dem Staubwischen und Ausfegen schon im Erdgeschoss und dem ersten Stock kaum hinterher. Hier fühle ich mich jetzt richtig verwöhnt. Am liebsten würde ich immer bei dir bleiben!“
Miss Linhart seufzte. „Kindchen, Helen… das rührt mich sehr, aber du weißt doch: Ich bin nicht mehr die Jüngste. Wenn ich eines Tages einmal nicht mehr sein sollte, was soll dann aus dir werden? Meine kleine Rente würde dann auch erlöschen.“
Helen seufzte ebenfalls. „Ich weiß es ja. Nein, ich werde natürlich versuchen, als Gouvernante ein sicheres Auskommen zu finden. Linny, woher hast du diese Rente eigentlich?“
Miss Linhart lächelte gedankenverloren. „Ach ja… bevor ich mich um dich gekümmert habe, war ich bei einem Witwer, dessen kleinen Sohn ich betreut und erzogen habe, bis es für ihn Zeit war, in die Schule zu gehen, nach Harrow. Und dieser Witwer war der Ansicht, ich hätte seinem Sohn sehr schön die Mutter ersetzt, also war er mir dankbar und hat mir eine Rente ausgesetzt. Solange ich danach auf Norwood Abbey lebte, konnte ich davon etwas ansparen – sehr beruhigend, mein Kind! – und danach fand ich, dass ich alt genug sei, um mich in ein bescheidenes eigenes Leben zurückzuziehen. Und hier sitze ich nun.“
„Hier sitzt du nun“, wiederholte Helen. „Mir hast du auch die Mutter ersetzt, du Liebe, Gute. Aber mein Vater hat höchstens versucht, an deinem Lohn zu sparen. Ich weiß, das ist untöchterlich, aber ich kann ihn nicht leiden. Er ist ein schlechter Mensch – und ich hoffe, er kommt nie zurück!“
Miss Linhart lächelte. „Untöchterlich – aber verständlich. Ich fürchte, er hat dich wirklich schandbar behandelt und seine Pflichten aufs Gröbste vernachlässigt!“ Als sei sie damit zu weit gegangen, senkte sie sittsam den Blick wieder auf ihre Stickerei. „Heute Nachmittag werde ich die Borten, die wir schon fertiggestellt haben, bei Madame Angélique abliefern.“
„Das kann ich doch tun, Linny, dann kannst du dich einmal ausruhen“, schlug Helen vor. Sie freute sich auch darauf, einmal durch die aufregenden Straßen Londons zu gehen, denn noch kannte sie nur den Weg von der Poststation zur Wohnung von Miss Linhart.
Diese zweifelte, ob dies ein guter Plan sei. „Kind, du weißt ja gar nicht, wie gefährlich das sein kann! Es gibt dort Diebe und Räuber und alleinstehende – äh - Herren. Sie könnten dich sehr unehrerbietig ansprechen, hast du keine Angst davor?“
„Nein“, antwortete Helen zuversichtlich. „Sie werden ein harmloses Dienstmädchen kaum beachten. Du kannst mir doch sicher ein Häubchen leihen?“
7
Sir Adam lehnte sich zufrieden zurück und legte die Feder zur Seite, mit der er gerade für seinen Sekretär einige Anweisungen notiert hatte. Ja, die neuen Maschinen für die Textilfabrik im Norden würden die Produktion gewiss erhöhen – und er war sicher, sie einsetzen zu können, ohne Arbeiter zu entlassen. Im Gegenteil, die Gegend bot wenig Gelegenheit zur Arbeit, der feuchte Boden war auch wegen der häufigen Überschwemmungen landwirtschaftlich nicht allzu ergiebig. Da verschaffte eine der wenigen neuartigen Fabriken den Bewohnern eine vernünftige Möglichkeit, sich und ihre Familien zu ernähren. Wenn man keine Hungerlöhne zahlte, hieß das freilich.
Den Damm im Osten sollte er noch besser befestigen lassen, überlegte er und notierte sich dazu einige Gedanken. Ja, und in diesen neugegründeten Fonds wollte er auch investieren; Kanalbau und Straßenbau waren für England dringend notwendig und würden die Transportmöglichkeiten englischer Waren auch zu den Seehäfen gewaltig verbessern. Dieses Unterfangen konnte Kapital brauchen und würde bestimmt auch angemessene Gewinne erzeugen.
Er lächelte. Von den Gewinnen könnte er zum Beispiel Norwood Abbey wieder in den alten Glanz versetzen lassen…
Die geflohene Lady Helen hatte er bis jetzt allerdings noch nicht aufspüren können. Die einzige dürftige Information hatte er von Butler Montey erhalten – das Mädchen hatte sich zur Poststation begeben.
Sie konnte ihrem Vater auf den Kontinent gefolgt sein, aber das bezweifelte er eigentlich – wer sollte einem Vater, der einen so im Stich gelassen hatte, auch noch nachlaufen? СКАЧАТЬ