Название: Ostfriesland verstehen
Автор: Helga Ostendorf
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783844257625
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Sprache ist – hoffentlich nicht! – das Spiegelbild des Denkens
Zeitungen geben nicht unbedingt eins zu eins die Meinung ihrer Leser_innen wider. Indem sie aber über bestimmte Dinge berichten und über andere nicht und gleichzeitig auch die Dinge bewerten, sind sie ein wichtiges Medium der Meinungsbildung. Kein Zweifel: Der Ostfriesen-Zeitung ist viel gut recherchiertes Spannendes und auch Kritisches zu entnehmen. Zu Frauenfragen aber hat die Zeitung eine sehr eigenartige Haltung. Unter „Frauenemanzipation” versteht die Redaktion „gute Heiratschancen”. Auch Frauenfeindliches kommt des Öfteren vor.
Jeden Freitag gibt es in Zeitung eine Kolumne, in der es heißt: „Wieder eine Woche auf dem Weg zur Emanzipation geschafft”. Meist geht es um Belanglosigkeiten. Aufschlussreich ist jedoch die Ausgabe vom 3.8.2012. Die Autorin befasst sich mit der Nachricht, dass der 93-jährige Altbundeskanzler Helmut Schmidt eine neue Lebensgefährtin hat, eine 78-jährige. Die Autorin begrüßt, dass Schmidt nicht Müntefering und Altkanzler Kohl nacheifere:
„Dies macht Hoffnung. Vielleicht erkennen die Männer ja jetzt, dass es gar nicht nötig ist, sich eine junge Frau zu suchen, sondern dass man mit einer gleichaltrigen viel besser klarkommen kann. Man hat mehr Gemeinsamkeiten”.
Die Erkundung „von welligen Oberflächen” sei „mit Sicherheit sehr viel spannender als das Streicheln über glatte Haut.” Die Quintessenz ist:
„Die Frau am Freitag wäre froh, wenn mehr Männer den Schmidt und nicht den Münte machen würden. Dann müssten auch nicht mehr so viele Frauen im Alter alleine (…) bleiben.”
Das Ziel der Frauenemanzipation ist dieser Kolumne zu Folge also, dass Frauen einen Partner finden, und nicht etwa, dass Frauen eigenständig entscheiden können, ob sie mit einem Mann zusammenleben wollen und wenn ja, mit wem. Die Göttinger Professorin Ilona Ostner (1995) brachte demgegenüber die Kriterien „loyality”, „voice” und „exit” ins Spiel: Wer die Freiheit zum Ausstieg (exit) hat, hat die Freiheit, die Stimme (voice) zu erheben und hat auch die Freiheit, sich zu fügen (loyality). Wer diese Freiheit aber nicht hat, muss sich fügen. Die Ostfriesen-Zeitung geht davon aus, dass Frauen sowieso keine Exit-Möglichkeit haben.
Über Aktivitäten der örtlichen Gleichstellungsbeauftragten sowie der in Ostfriesland zahlreichen Hausfrauen- und Landfrauenvereine wird höchst selten berichtet. Erinnern kann ich mich nur an einen einzigen Artikel, in dem es um eine berufliche Wiedereingliederungsmaßnahme einer Gleichstellungsstelle ging. Auch die Hausfrauen- und Landfrauenvereine machen durchaus Interessantes. Etwa organisieren sie Vortragsveranstaltungen zu alternativen Heilmethoden, neuen Erkenntnissen zur Kindererziehung, Gartengestaltung oder zum Pflanzenschutz. Diese Termine sind allenfalls im Veranstaltungskalender zu finden. So trafen sich z.B. 2012 die Frauen des „Interfriesischer Rates” in Leer. Das Treffen dieses Zusammenschlusses der Friesinnen der Niederlande, Schleswig-Holsteins, Frieslands und Ostfrieslands wurde vorab zwar angekündigt, berichtet wurde darüber aber nicht. Gleichzeitig wird jede Jahreshauptversammlung einer Dorf-Feuerwehr mit vier Spalten plus Foto gewürdigt.
Auch Blondinenwitze sind in der Ostfriesen-Zeitung nicht selten. Sie werden ihr von Kindern zugesandt und ausgerechnet auf der Kinderseite abgedruckt. Ein Kommentar zur Wahl einer Kandidatin für die Landtagswahl zeugt gleichfalls von hintergründiger Frauenfeindlichkeit:
„Keine Frage: Die Sozialdemokraten im Landkreis Leer ziehen mit breiter Brust in den Wahlkampf” (OZ 20.2.2012).
Zu diesem Artikel gab es ein Foto, auf dem der Spitzenkandidat der niedersächsischen SPD (und jetziger Ministerpräsident) Stephan Weil die Kandidatin und den Kandidaten präsentiert. Weil hat den rechten Arm angewinkelt und die Handfläche nach oben gedreht. Auf dem Foto sieht es aus, ab ob er die Brust der Kandidatin stützt.
Manchmal jedoch muss selbst „frau” schmunzeln: „Eigene Kleidung für Schüler des TGG”, heißt es in der Ostfriesenzeitung (14.1.2012). Neuerdings also dürfen dortige „Schüler” eigene Kleidung tragen? Durften sie die Schule bis dahin nur in muffigen Leihklamotten besuchen? Hier lässt sich tiefgründig weiterspinnen: Übten sich die Lehrerinnen gar im Geschlechterkampf gegen männliche Schüler? Schließlich war diese Schule bis 1972 noch ein Mädchengymnasium. (Sie zählt übrigens zu den ältesten höheren Mädchenschulen Deutschlands, wurde 1849 gegründet und hat seit 1909 die Abiturberechtigung.) Sicherlich übertreibe ich hier ein wenig. Mitteilen wollte die Zeitung, dass die Schule jetzt T-Shirts und Base-Caps mit ihrem Logo an die Schüler – und sicherlich auch an die Schülerinnen – verkauft.
Belustigend ist gleichfalls ein Bericht über eine Fördermaßnahme zugunsten von Jungen: Ein Tischler besucht für jeweils eine Woche einen Kindergarten und bringt den Kindern den Umgang mit Holz bei. Auf dem beigefügten Foto beschäftigt sich aber ausgerechnet ein Mädchen am eifrigsten mit einem Werkstück.[24]
„Grundidee ist, in überwiegend von weiblichen Erzieherinnen geprägten Kindergärten besonders Jungen geschlechtsspezifisch in ihrer Entwicklung zu unterstützten” (OZ 5.3.2012).
Die These, dass weibliche Erzieherinnen und Lehrerinnen Jungen unterdrückten und Jungen deshalb häufiger zu Schulversagern würden, hat allmählich einen ellenlangen Bart. Sie ist Allgemeingut – aber wissenschaftlich nicht belegt. Die Ostfriesen-Zeitung wiederholt distanzlos die Argumentation der Projektverantwortlichen.[25]
Durchaus nicht alle Ostfriesen_innen teilen die Meinung, dass Frauen „ins Haus” gehören. So planen sowohl das Emder VW-Werk als auch der Großefehner Baustoffhandel Trauco einen Betriebskindergarten einzurichten. Auch lud das VW-Werk zum Girls’ Day 2012 250(!) Siebt- bis Zehnklässlerinnen ein. Das Ziel war, ihnen Berufe vorzustellen, in denen Frauen seltener vertreten sind. Das Emder VW-Werk ist schon seit langem dafür bekannt, dass es überdurchschnittlich viele Mädchen in metall- und elektrotechnischen Berufen ausbildet und sie selbstredend hinterher ausbildungsgemäß beschäftigt.[26] Während die Ostfriesen-Zeitung so manchen Schulausflug mit einer Reportage würdigt, ist ihr der Girls’ Day des VW-Werks gerade mal eine knappe Ankündigung wert. Dass Frauen gut bezahlte (Männer)-Berufe lernen und ausüben, passt nicht in das Weltbild der Zeitung – und auch nicht in das vieler Ostfriesen_innen. Dabei sind die Haltungen der Ostfriesen_innen durchaus vielschichtig und auch gegensätzlich: Die einen ziehen für einen Kindergartenplatz vor Gericht, die anderen wollen ihre Kinder weder in einen Kindergarten noch in eine Ganztagsschule schicken.
5.
„Gottes Herz schlägt auf Platt”
Kirchen
„Glaube schafft alles – sogar Gott lernt Plattdeutsch”, überschrieb die Ostfriesen-Zeitung einen Bericht zum „6. Ostfriesischen Kirchentag” (16.7.2012). Dass dieser Kirchentag ein evangelischer war, versteht sich von selbst. In Ostfriesland ist sowieso (fast) alles evangelisch. Die Zeitung spielte damit auf eine Aktion der Gruppe „Plattdüütsk in de Kark” an. Diese hatte beim Kirchentag ein Quiz durchgeführt und gefragt, was auf den dargereichten Käse- und Mettwurstbroten zu lesen sei. Die Antwort: „Gottes Herz schlägt auf Platt”. Angesichts der Zahl der Kirchenmitglieder in Ostfriesland wird Gott Plattdeutsch können müssen. Die Kirchen aber gehen durchaus nicht immer freundlich miteinander um. In der Krummhörn wurde 2010 gar der Kirchenkrieg des 16. Jahrhunderts wieder aufgenommen.
Kirchen in Ostfriesland
90% der Ostfriesen_innen gehören einer christlichen Kirche an. Fast drei Viertel sind protestantisch; davon sind 57% evangelisch-lutherisch und 17% evangelisch-reformiert. Die reformierte Kirche ist vor allem im Rheiderland, СКАЧАТЬ