Название: Am Ende des Wohlstands
Автор: Shimona Löwenstein
Издательство: Bookwire
Жанр: Социология
isbn: 9783738051964
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Diese Erklärungen zu Beginn des Jahrtausends mögen zu einem Teil berechtigt sein: Es gibt tatsächlich einen anhaltenden Rationalisierungstrend durch technische Neuerungen, und es gibt ebenfalls politische Fehlentscheidungen und strukturelle Schwächen des Sozialstaates. Sie suggerieren dennoch ein verzerrtes Bild, in dem die Hauptschuld an der anhaltenden Arbeitslosigkeit verschwiegen oder verharmlost wird. Die im Laufe der Jahre vollzogene Deindustrialisierung Europas, von der Deutschland wohl etwas weniger betroffen ist als etwa Frankreich oder Großbritannien, ist kein Phänomen, das man mit Vorurteilen der Globalisierungsgegner einfach abtun und mit etwas radikaleren Reformen der sozialstaatlichen Strukturen beheben kann. Auch läßt sich der ganze Produktionsausfall der Industrie nicht durch die Verlagerung auf die wachsende Informationsbranche oder den Dienstleistungssektor ersetzen. Denn diese Wirtschaftszweige sind zwar nicht „unproduktiv“ im Sinne des in den ehemaligen kommunistischen Ländern üblichen gesamtwirtschaftlichen Bilanzrechnung; [89] sie stellen aber auch keinen vollwertigen Ersatz für den zweiten Sektor dar: erstens, weil dafür nur ein relativ kleiner Teil der in der Gesellschaft vorhandenen Arbeitskräfte gebraucht wird, zweitens, weil der dort erwirtschaftete Gewinn nur einem geringen Bevölkerungsanteil zugute kommt (Hauptursache für die wachsende Diskrepanz zwischen Reich und Arm), und schließlich auch deshalb, weil die Leistungen des dritten Sektors zu einem großen Anteil durch die Belastung des produktiven Wirtschaftsektors oder des Staates finanziert werden. Das funktioniert nur so lange, wie die wirtschaftliche Substanz der ganzen Gesellschaft noch stark genug ist, daß sie sich diese zusätzlichen Dienstleistungen auch leisten kann. Handelt es sich um steuerfinanzierten Staatskonsum bzw. eine vom Staat subventionierte Produktion (etwa die neugeschaffenen Arbeitskräfte, Ausgaben für Kultur, Sport oder überflüssige Bürokratie), die nur noch durch immer wachsende Staatsschulden bezahlt weden kann, enthält die ganze Wirtschaftsleistung dieses Sektors im wachsenden Maße einen parasitären Charakter: Man wirtschaftet somit auf Kosten anderer Wirtschaftssubjekte oder der Zukunft. Der gesellschaftliche Bedarf an solchen Leistungen ist ohnehin nur zum Teil berechtigt, zum Teil künstlich entstanden aufgrund von gesellschaftlichen Gebrechen oder überflüssigen Komplikationen und Schieflagen (etwa die der Drogentherapeuten, Arbeitslosenbetreuer, Steuer- oder Finanzberater), zum Teil völlig überflüssig, jedenfalls aber überdimensioniert. Das bedeutet im Klartext, daß eine Gesellschaft, die sich nicht mehr als eine Industriegesellschaft konstituieren will, einen Massenbedarf an Arbeitskräften, wie es am Höhepunkt ihres wirtschaftlichen Wachstums der Fall war, nicht mehr hat.
In dieser Situation führt eine gern als Lösung präsentierte „geburtenfreundliche“ Politik, die stärkere Förderung von Familien durch Kinderfreibeträge, Kinder- oder Erziehungsgeld (bzw. Elterngeld), bis hin zu der heute forcierten Politik der Schaffung von mehr Krippenplätzen, mit der man die erwünschte Geburtenzunahme erreichen möchte, nicht zu größeren künftigen Einnahmen des Staates und der Kassen, sondern nur zu ihrer zusätzlichen Belastung. Nicht nur deshalb, weil die verschiedenen Maßnahmen (einerseits Kita-Ausbau, andererseits Betreuungsgeld für das Zuhausebleiben von Kleinkindern, [90] Ehegattensplitting auch für kinderlose, ja homosexuelle Paare, usw.) sehr teuer und in sich widersprüchlich sind. [91] Die Vorstellung selbst ist anachronistisch: Denn auch dann, wenn die ganzen Förderungen die Bevölkerungsabnahme und damit die Alterung der ganzen Gesellschaft tatsächlich bremsen oder aufhalten könnte, wäre dies keine Lösung der bestehenden Probleme, weil diese Sicht nur die Rentenproblematik, aber nicht den strukturellen Wandel der Gesellschaft (die Entindustrialisierung und die damit verursachte Arbeitslosigkeit) berücksichtigt. Die in den statistischen Prognosen aufgezeichneten Beschäftigten werden nämlich aus ihren Einkommen neben immer mehr Rentnern noch einige zusätzliche Arbeitslose unterhalten müssen, und zwar desto mehr, je mehr Menschen da sind. Die gleiche Problematik gilt übrigens auch für die in den letzten Jahren immer mehr geforderte Zuwanderung von Ausländern, von denen in Wirklichkeit nur ein ganz geringer Anteil als Arbeitskräfte tatsächlich gebraucht wird. Mehr „Menschenmaterial“ bedeutet nicht zwangsläufig Einkommenszuwachs, sondern in Zeiten wirtschaftlichen Wandels nur die Beschleunigung des Niedergangs. Das Problem besteht auch nicht darin, daß eine schrumpfende Bevölkerung ihre immer länger lebenden Senioren nicht mehr ernähren kann, sondern daß die Renten und alle übrigen sozialen Systeme (die Arbeitslosen- und Krankenversicherung) an das Arbeitseinkommen gekoppelt sind.
Die notwendige Reform der Sozialsysteme bestünde somit in der Entkoppelung der sozialen Leistungen von der Arbeitswelt bzw. in der Ersetzung der bestehenden Sozialversicherungen durch steuerfinanzierte einkommensunabhängige Grundsicherung: Grundeinkommen (Bürgergeld), Grundrente und gesundheitliche Grundsicherung, die durch Erwerbsarbeit, die bereits bestehenden Ansprüche (z.B. gesetzliche Rente) sowie durch private Vorsorgesysteme ergänzt werden könnten. Die Entwicklungstendenz der heutigen Gesellschaft läuft darauf gezwungenermaßen hinaus. Einen Versuch, den zusammenbrechenden Sozialstaat in diesem Sinne zu reformieren, hat nichtsdestoweniger in Deutschland noch nie jemand gewagt. Statt dessen werden stets aus kurzsichtiger und punktueller Perspektive oder wohltaktischem Kalkül Vorschläge hervorgebracht und nur aus isolierten Betrachtungen entstandene widersprüchliche Maßnahmen ergriffen, deren unberücksichtigte Nebenwirkungen und Folgen sich im ganzen System ausbreiten und gegenseitig verstärken, worauf bereits vor dreißig Jahren Kurt Biedenkopf hingewiesen hat. Aus politischen Kompromissen und Rücksichten auf vielerlei Interessen werden schließlich unausgegorene „Mogelpackungen“ als Reformen präsentiert, die nicht auf Ursachen, sondern auf Symptome gesellschaftlicher Mißstände zielen und zu deren Bekämpfung ganze Armeen von Hilfeleistenden angeheuert werden.
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