Название: Wilde Zeiten - 1970 etc.
Автор: Stefan Koenig
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Band 2
isbn: 9783742769398
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Der V-Mann Urbach, eingeschmuggelt in die linke Szene, lieferte Molotow-Cocktails, Waffen, Sprengstoff und Drogen an die jungen Berliner Aufrührer. Alles für die Eskalation. Denn die „linke“ Szene sollte hässlich, brutal, verroht und unmenschlich aussehen.
„Eigentlich ganz wie das System“, sagte Rio Reiser, als wir ihn und seine Band wieder einmal auf ein Bierchen in ihrer Probebude besuchten. „Am schönsten wären für die herrschende Mafia Schlagzeilen wie »Rudi Dutschke erschlägt seine Mutter, »Fritz Teufel verbrennt Auto eines Schichtarbeiters« oder »Ulrike Meinhof erschießt ihre Putzfrau«. Stimmt doch, oder?“
So traurig es im Grunde war, wir mussten laut lachen.
Baader wurde zu drei Jahren Haft verurteilt. Eine der überlegenswerten Theorien über Sinn und Zweck einer ausschließlich konsumorientierten Geldwirtschaft wurde durch seine Tat grundlegend diffamiert. Ulrike Meinhof verschaffte mit ihrer idiotischen Befreiungsaktion den verurteilten Straftätern eine Art Leumundschaft. Das konnte nicht gut ausgehen.
In Karins maoistischer Ideenwelt hingegen war „Gewalt gegen Sachen ganz in Ordnung“, weil das angeblich die Arbeiterklasse nicht tangierte, es betraf ja nur das durch die Ausbeutung der Arbeiterklasse ergatterte Vermögen der Bourgeoisie. Das war wieder mal maoistische Denke vom Feinsten – aus dem fernöstlichen Lehrbuch, wahrscheinlich Lektion 1A: Wie verrenke ich mein Hirn, um jeden Scheiß gutzuheißen, wenn er denn nur dem verhassten Establishment schadet.
Dass solche Aktionen von „den Massen“, deren Herz und Hirn Karin angeblich erobern wollte, weder verstanden noch gebilligt wurden, kam in solcher Politdenke einfach nicht vor. Dennoch respektierten wir unsere unterschiedliche Sicht der Dinge und liebten uns. Ganz nach dem Motto: Gegensätze ziehen sich an.
Und was zog Karin plötzlich an einem Abend vorm Zubettgehen erst an und dann aus? Ein Wegwerfhöschen! Unglaublich! Das war der Mode-Hit der Urlaubssaison: rein, raus, in den Müll. Für Mädchen mit Sinn für Ulk gab es sie auch bedruckt, mit Herzchen, dicken Lippen und Kussmund, mit Motiv-Rose oder Kleopatra-Auge. Was Mao Tse-tung wohl davon hielt? Ich fragte Karin lieber nicht.
Wir blätterten noch in allerhand revolutionären Blättchen.
In der Sponti-Zeitung Agit 883 ging‘s um radikale Aufklärung: Ich weiß nen Witz/ meine Mutter hatn Ritz/ mein Vater hat ne Rhabarberstang/ da macht er die kleinen Kinder mit bang. Karin und ich fanden den letzten Reim irgendwie schräg. Da waren die anderen Reime weniger verfänglich. Lakritzen, Lakritzen/ die Mädchen haben Ritzen/ die Jungen haben ‘n Hampelmann/ da ziehen die Mädchen gerne dran. Dass das eigentlich gar nicht so ganz stimmte, wussten wir aus dem Kinsey-Report.
Karin und ich mussten lachen, als wir weiterlasen: In der Nacht, in der Nacht/ wenn der Büstenhalter kracht/ und der Bauch explodiert/ kommt das Kind herausmarschiert.
Ganz früher, mit acht, neun und zehn Jahren, hatten sich mein Schulfreund Pit und ich noch gefragt, wo denn nun das Kind herausmarschieren würde. Wir waren damals zu keinem Ergebnis gekommen. Ich war der Ansicht, es käme aus dem Nabel; Pit hatte eine entschieden exkrementelle Vorstellung von der ganzen Sache, was ich für extrem unsauber hielt und abwies. Es sollte sich aber zeigen, dass mein Freund der Wahrheit schon rein geografisch sehr viel näher gewesen war.
Um einen anderen Reim ging es im Brief, den meine Mutter an Günter und mich gerichtet hatte. Da mein Bruder und ich uns sowieso demnächst treffen wollten – er wohnte nur fünf Bushaltestellen von unserer WG entfernt – hatte sie das Porto gespart und uns einen Gemeinschaftsbrief geschrieben. Typisch Lollo, die sparsame Schwäbin. Er enthielt eine in Gedichtform gehaltene Lobpreisung auf ihre Freundin Elsbeth, der Rindswurst-Tante aus der Unternehmer-Familie Gref-Voelsing. Dass Lollo dichten und reimen konnte, war mir neu. „Die Rindswurst-Hymne“ belehrte mich eines Besseren.
Die beste Rindswurst auf der Welt
Ist die Gref-Voelsing’s, die gefällt
Den Augen und dem Magen,
Die sie so gut vertragen.
Sie ist so glatt, so rund und braun,
Wir können sie so gut verdauen,
Geschmacklich einwandfrei und klasse,
Sie schmälert nicht mal unsre Kasse!
Wir essen sie gar willig –
Besonders weil sie billig:
Denn unsre Elsbeth sie spendiert
Und uns zum Essen dann verführt.
Ein Lob drum
Dieser Wurst vom Rind,
Die gern im Magen-Labyrinth
Von Vater, Mutter, Kind verschwindt.
Wir danken
Unsrer Elsbeth
Denn sowas
Das ist sehr nett!
Auch Willy Brandts Regierung war sehr nett. Gemäß ihrem Leitsatz „Mehr Demokratie wagen“ setzte sie per Grundgesetzänderung das Wahlalter herunter. Von nun an waren Achtzehnjährige alt genug zu wählen und Einundzwanzigjährige reif genug, gewählt zu werden. „Schade, dann muss ich noch bis September warten, bis ich dich als potentiellen Außenminister wählen kann“, sagte Karin.
„Dann müssten aber auch pünktlich zu meinem Geburtstag Wahlen sein“, gab ich zu bedenken. „Wichtiger ist mir im Moment, wo ich mich bewerben könnte, um meinem Traumberuf als Journalist näher zu kommen.“
Karin schnipste wieder mal mit den Fingern. „Ich wollte es dir schon die ganze Zeit zeigen…“, und sie kramte unter ihren Schulunterlagen eine Zeitschrift hervor mit dem Namen „Bundesdeutsche Tabus“, verlegt von einem Dr. Wilhelm Duwe.
„Schau mal die Anzeige hier, die suchen einen Volontär ab Herbst dieses Jahres. Da hätten wir noch genug Zeit, im Sommer unsere Freunde auf ihrem Hippie-Trail in Torre zu besuchen. Und du könntest dich schrittweise vom Soli-Verband zurückziehen.“
Schon am nächsten Tag rief ich beim Dr. Duwe Verlag an. Eine vornehm klingende Damenstimme meldete sich und reichte mich dann weiter: „Wilhelm, für dich!“
Dann hatte ich den Chef persönlich am Apparat; wir machten einen Termin für Ende des Monats aus. Ich möge bitte eine Bewerbungsmappe zusammenstellen. Klar doch, das war ein Heimspiel, dachte ich.
Vorher aber musste ich nach Frankfurt. Zum Geburtstag meiner Mutter setzte ich mich in den Interzonenzug und besuchte sie und ihr Damenkränzchen, das ich tatsächlich schon ein wenig vermisst hatte.
Lollos Freundinnen trafen sich in unserem Stadthaus. Wie immer hatte ich vorher schnell die Straße gekehrt, damit keine der reichen und stolzen Unternehmergattinnen über einen Kiesel stolperte oder СКАЧАТЬ