Название: Trojanische Pferde
Автор: Peter Schmidt
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783847657736
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“Wie haben Sie und Nam miteinander gelebt? Wie haben Sie den Tag verbracht? Das arme Mädchen aus einer anderen Welt und der Geschäftsmann? Trete ich Ihnen zu nahe, wenn ich danach frage …?”
“Sie meinen, wegen unseres Altersunterschieds? Das denkt man doch immer in solchen Fällen. Reicher alter Knacker kauft sich hübsches junges Ding, um das Gefühl zu haben, er sei noch nicht ganz aus dem Rennen. Normalerweise würde ich niemandem auf so indiskrete Fragen eine Antwort geben”, sagte er verächtlich. “Aber bei Ihnen ist das was anderes, Winger. Kommen Sie, ich zeige Ihnen meinen Dachgarten …”
Wir nahmen unsere Gläser mit nach oben, und als er mir die Hand auf die Schulter legte und die Eisentür zum Dach aufschob, hatte ich für einen Augenblick das Gefühl, einen guten Freund gewonnen zu haben, bei aller Vorsicht, was solche Superlative anbelangt, weil er mich aus irgendeinem Grund, für den man niemals wirklich eine Erklärung findet, in sein Herz geschlossen hatte.
Obwohl ich das Gefühl nicht loswurde, dass sein Herz ein großer Eisklumpen war, so kalt wie das Wasser, in dem er schwamm, und dass ich eher auf der Oberfläche des Eises herumkrabbelte wie ein Käfer, der aufpassen musste, sich nicht die zarten Füßchen zu verkühlen.
Keißens Dachgarten war eine Sache für sich. Er nahm fast das ganze Flachdach des Traktes ein und hatte eine Länge von etwa sechzig mal fünfundzwanzig Metern. Wenn man an der Brüstung stand, konnte man die Masten der U-Bahn sehen, die hier für ein paar hundert Meter wegen der Bergbauschäden den Untergrund verließ und am Naturkundemuseum wieder im Boden versank.
Die meisten Gewächse standen in steinernen Kübeln und flachen Behältern, lediglich in der Mitte des Gartens war der Boden zu einer größeren Anbaufläche aufgeschüttet.
Ich hatte gar nicht gewusst, dass in unseren Breiten so viele tropische Pflanzen gedeihen. Aber dann entdeckte ich die Fußbodenheizung und sah, dass man die beiden Plastikkuppeln an den Seiten der Fahrstuhltürme bei schlechter Witterung ausfahren konnte. Auf diese Weise wurde sein Dachgarten zum Treibhaus.
“Hier arbeite ich fast jeden Tag bis spät in die Nacht”, erklärte er stolz. “Sehen Sie sich mal die Blütenpracht an, Ralf. Das ist die Frucht eines langen Lebens, dazu braucht es Liebe zu den Pflanzen und viel Wissen. Solche Blüten gibt’s nicht mal im exotischen Garten. Und das um diese Jahreszeit.
Die Botaniker kommen zu mir und lassen sich erklären, wie es geht. Aber bei ihnen klappt es nicht. Sie können meine Ergebnisse nicht reproduzieren, weil die Seele nicht dabei mitspielt”, sagte er und tippte sich an die Schläfe. “Es sind nur Techniker, Verstandesmenschen. Sie haben kein Herz für Pflanzen.”
“Beeindruckend”, sagte ich und stellte mein Glas auf dem Tisch ab. “Wirklich beeindruckend …”
“Nam und ich haben fast jeden Abend hier gesessen.” Er zeigte sichtlich betrübt auf eine Gruppe Liegestühle unter dem durchsichtigen Kunststoffdach. “Wollen Sie ein Foto von ihr sehen?”
“Nein, ich hatte bereits Gelegenheit, das ebenso ansehnliche Duplikat zu begutachten.”
“Ihre Schwester – ja, richtig. Nam war mein Leben. Sie stammte aus einem Dorf an der Küste. Ihr Vater arbeitete als Gärtner in einem Touristenhotel. Er fuhr jeden Tag über fünfundzwanzig Kilometer mit dem Fahrrad zur Arbeit, um das Geld für den Bus zu sparen. Dabei sind die Buspreise in ihrem Land lächerlich billig.”
“Wie hat Nam denn all Ihren Reichtum verkraftet?”, fragte ich.
“Oh, sie war nicht sehr anspruchsvoll. Und Sie sehen ja, wie ich lebe. Ich mache mir nicht viel aus Möbeln und teueren Einrichtungen."
“Wie haben Sie den Tag verbracht?”
“Nam schwamm gern. Genauso wie ich.”
“Sie haben einen eigenen Pool, nicht wahr?”
“Es ist der große Flachbau da unten”, sagte er und zeigte in den Innenhof. ”
“Da ist sie ertrunken?”
“Seitdem kann ich es kaum noch ertragen, dort zu schwimmen.”
“Was halten Sie denn davon, dass der Gerichtsmediziner glaubt, sie sei kerngesund gewesen zum Zeitpunkt ihres Todes.”
“Glaubt er das?”
“War sie’s etwa nicht?”
“Oh, ich war sehr bemüht um ihre Gesundheit. Das Klima hier in unserem Land ist für Asiaten nicht besonders zuträglich. Sie leiden alle darunter. Es darf kalt oder warm sein, so kalt wie im Himalaja, das überstehen sie schon. Aber nicht ein halbes Jahr bedeckter Himmel und feucht.”
“Na, hier bei Ihnen ist’s ja auch nicht gerade anheimelnd, ich meine, was die Heizung anbelangt …”
“Weil die Anlage defekt ist. Diese Burschen schaffen es nicht, den Regler für die Luftzufuhr einzustellen. Ich prozessiere schon seit Wochen mit dem Hersteller.”
“Vielleicht sollte Sie einfach mal ‘ne Schippe Briketts nachlegen, Keißen?”
Sein Gesichtsausdruck veränderte sich schlagartig, als ich ihm unterstellte, er sei ein alter Geizkragen, der seine Mitmenschen lieber frieren ließ. Aber dann fand er wohl heraus, dass es nur eine gezielte Provokation war, um ihn ein wenig aus der Reserve zu locken. Und er war nicht gewillt, sich diese Blöße zu geben. Er lächelte und taxierte mich, als sei ich ein abbruchreifes oder renovierungsbedürftiges Haus, mit dem er vielleicht einen guten Schnitt hätten machen können, wenn's ihn gerade an der Stelle gejuckt hätte. Aber es interessierte ihn nicht.
“Gehen wir wieder nach unten, ja?”
‘Nach unten’ war wohl nur die höfliche Umschreibung von ‘Jetzt aber raus, mein Lieber’. Auf der Treppe fiel ihm ein, dass er vor seiner Abreise noch ein paar wichtige Telefongespräche ins Ausland zu führen hatte.
“Sie sind doch mindestens genauso stark daran interessiert, etwas über Nams wahre Todesursache zu erfahren wie ihre Familie und die Polizei”, sagte ich. “Oder liege ich da falsch?”
“Hat Nams Familie Sie beauftragt?”, fragte er.
“Ich suche ein verschwundenes Mädchen, das ist alles.”
“Und für wen arbeiten die beiden Anwälte, die Sie engagiert haben?”
“Keine Ahnung. Angeblich für einen Verein gegen den fortschreitenden Verfall der Sitten in der Stadt.”
“Das nehmen Sie ihnen ab?”
“Ich weiß nicht – ich weiß nicht, wem ich was abnehmen soll. Aber das ist in meinem Job schon fast so etwas wie eine Berufskrankheit …”
“Na, dann sehen Sie mal zu, dass Sie bald wieder von Ihrem Fieber genesen, Winger”, sagte er und reichte mir zum Abschied die Hand. Er brachte mich zur Haustür und ließ mich wissen, es sei zwecklos, noch einmal in derselben Angelegenheit vorzusprechen. Wegen des Eismeers.
Er hatte einen groben Fehler gemacht, und ich war fest entschlossen, herauszufinden, wieso.