Die schönste Brücke der Verständigung. Helmut Lauschke
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Название: Die schönste Brücke der Verständigung

Автор: Helmut Lauschke

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

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isbn: 9783738094909

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СКАЧАТЬ um die Probe wieder aufzunehmen. Auf dem Programm stand Tschaikowsky’s Fünfte in e-Moll, Opus 64. Wiktor Kulczynski hatte sich aufs Podium begeben und blätterte in der Partitur. “Nehmen wir uns nun die Fünfte vor. Es ist ein großes Werk, das uns Polen ins Herz geschrieben wurde. Konzertmeister, ich darf um das ‘A’ bitten.” Der junge Konzertmeister mit den dunkelbraunen Augen und dem langen, zurückgekämmten schwarzen Haar strich den Bogen über der A-Saite rauf und runter. Er hatte zuvor den Saitenton mit dem ersten Fagott abgestimmt. Kulczynski: “Nun bitte alle das ‘A’. Bei den Celli ist das ‘A’ zu tief. Bitte noch einmal stimmen”, worauf der Konzertmeister noch einmal und so lange über die leere A-Saite strich, bis die Saiten aller Streichinstrumente gleichmäßig gestimmt waren. Kulczynski: “Danke. Nun wollen wir beginnen. Beachten Sie die Lautzeichen mit den Crescendi und Decrescendi. Die Befolgung dieser Zeichen ist von größter Wichtigkeit.” Er hob den Stab und senkte ihn. Die A-Klarinetten bliesen das Thema des ‘Andante’: B-C-B-A-B-G / D-Es-D-C-D-B / G-F-ES-D-C-B. Boris liebte die Fünfte von Tschaikowsky wegen der Stärke, mit der slawisches Fühlen zum Ausdruck kommt. Er hatte sich neben Frau Lydia Grosz gesetzt, der Schwester des Dirigenten, um sich den ersten Satz anzuhören. Schon in den ersten sechs Takten des Klarinettenvortrags trat der breite Wolgastrom vor sein geistiges Auge. Aus den gebundenen Sechzehnteln nach den punktierten Vierteln hörte er das Schluchzen der Menschen, so auch das Schluchzen seines Vaters Ilja Igorowitsch. Drückender war slawische Schwermut nicht zu bringen als mit dem Beginn des ‘Andante’ dieser Symphonie. Im Vergleich dazu drückte die Schwere im Beginn des Brahms’schen Klavierkonzertes weniger, auch wenn Boris da das Gefühl der Schwermut schon überkam.

      In der Fünften von Tschaikowsky, da war es das Trauerlied, der Trauermarsch, die Melancholie von der größten Schwere. Diese Melancholie, die der Ausweglosigkeit den Ton gab, konnte die Häftlinge in den Arbeits- und Vernichtungslagern der Nazis oder Stalins (“Archipel GULAG”) befallen haben. Diese gequälten Menschen konnten den Trauermarsch gesummt haben, wenn sie abgerungen und ausgezehrt mit der frühesten Dämmerung zur Arbeit ausrückten oder mit der letzten Dämmerung zurückkehrten oder sich im Morgengrauen eines kalten Wintertages versammelten, zerrissen und gedemütigt bis in die Dürftigkeit der Kleidung und des Schuhwerks durch den tiefen Schnee stapften und über eisig gefrorene Wege schlurften, um unter scharfer Bewachung zum ausgehobenen Massengrab oder zur Erschießungsmauer geführt wurden. Das Thema des ‘Andante’ fuhr Boris durch Mark und Bein. Es erschütterte ihn. In der Vorstellung solch letzter Einsamkeit und Verlassenheit des Menschen überkam ihn das hilflose Zittern.

      Ergriffen und erschüttert saß Boris neben Lydia Grosz, der alten, dunkel gekleideten Dame mit dem schneeweißen Haar und hörte sich den tragischen Satz bis zu Ende an. Die Melancholie hatte ihn aufgewühlt. Er nahm sich zusammen und hoffte, dass die Dame sein Zittern, das ihm durch die Glieder fuhr, nicht merkte. Nach diesem ergreifenden Tschaikowsky’schen ‘Andante’ legte das Orchester eine Pause ein. Wiktor Kulczynski gab Instruktionen, wie der Ausdruck des ‘Andante’ noch zu steigern war. Da merkte Boris, dass Dirigent und Orchester mit der russischen Musik bis ins Blut vertraut waren. Er dachte, dass eine Steigerung im Vortrag des ‘Andante’ mit dem noch Mehr an Melancholie nicht möglich sei, denn die Zuhörer sollten nicht überfordert werden und gleich zu Beginn in Weinkrämpfe ausbrechen.

      Boris raffte sich zusammen und verabschiedete sich von Frau Grosz, die bei der Verabschiedung leise hinzufügte: “Wir sehen uns heute Nachmittag in der Pilsudski-Straße 17.” Er verließ den Saal, während Wiktor Kulczynski seine Instruktionen beendete und um Wiederholung des Satzanfangs bat. Beim Verlassen der Philharmonie atmete Boris einige Male tief durch, um sich mit der Welt draußen außerhalb der Musik wieder vertraut zu machen. Er ging zum nächsten Taxistand und ließ sich zum Hotel ‘Polnischer Hof’ zurückfahren. Er sah aus dem Fenster und spürte, wie das ‘Andante’ aus der Fünften in ihm nachklang, die Melancholie in ihm nachwirkte. Die Außenwelt mit ihren Autos, den Radfahrern und eilenden Passanten kam ihm fremd und leer vor. Das Amusische dieser Welt stieß ihn ab. Das Taxi hielt vor dem Hotel. Er stieg aus, zahlte, was zu zahlen war, und gab auch diesem Fahrer ein fürstliches Trinkgeld. Der dankte und reichte Boris seine Notentasche durchs offene Fenster nach: “Die sollten Sie nicht vergessen.” Boris dankte für die Aufmerksamkeit. So tief wirkte die Probe in ihm nach, dass er das Lächeln, das ihm Vera von der Rezeption zum Eingang schickte, als er durch die Tür trat, garnicht bemerkte.

      “Wie war es?”, fragte sie, als er sich der Rezeption näherte. “Es hat geklappt”, antwortete Boris in knappen Worten. Von der Wirkung, die das ‘Andante’ aus Tschaikowsky’s Fünfter in ihm auslöste und noch stark in ihm arbeitete sowie von den Bildassoziationen der breiten, träg dahinfließenden Wolga, an deren Ufer sein Vater Ilja Igorowitsch stand und nach ihm rief, sagte er kein Wort. Vera entging das angespannte Gesicht des jungen, von ihr verehrten Pianisten nicht, dem sie im geheimen schon ihre Liebe gab. “Nun sollten Sie sich ausruhen und pünktlich am Mittagstisch sein. Als Spezialität gibt es heute Eisbein mit Sauerkraut und Dampfkartoffeln.” Verabehielt ihr freundliches Lächeln und bemühte sich, Boris zu entspannen. Da kein anderer Gast an der Rezeption stand und auch keiner auf die Rezeption zukam, sagte sie, dass sie sich für den Nachmittag freigenommen hatte: “Da können wir vielleicht einen Spaziergang durch die Stadt unternehmen und irgendwo eine Tasse Kaffee trinken.” Boris schaute sie mit großen Augen an, denn er kam nur langsam aus der Welt der Philharmonie in die Außenwelt zurück: “Das ist eine gute Idee, Fräulein Vera. Von wann ab haben Sie sich denn freigenommen? Ich frage deshalb, weil mich Frau Lydia Grosz, die Schwester des Dirigenten, zum Nachmittagstee zwischen fünf und sechs in ihr Haus in der Pilsudski-Straße eingeladen hat.” Vera: “Dann verkehren Sie bereits in der großen Gesellschaft, denn diese Dame ist durch ihre Leitartikel in verschiedenen Zeitungen und ihre Wohltätigkeit für Waisenkinder in Warschau bekannt. Um ihre Frage zu beantworten, ich habe mir ab zwei Uhr freigenommen.” Boris: “Dann haben wir doch noch einige Stunden Zeit für einen Stadtbummel, den ich gern mit ihnen unternehmen würde.” Vera: “Nur wenn es Sie nicht überfordert, Boris Baródin, denn Sie müssen sich für das Konzert schonen. Da will ich Sie nicht strapazieren.” Boris: “Das tun Sie ganz und gar nicht. Ein Rundgang durch die Stadt mit ihnen, daran hatte ich letzte Nacht schon gedacht.” Vera: “Gut, dann treffen wir uns halbdrei draußen vor dem Eingang. Nun vergessen Sie das Mittagessen nicht.”

      Für Boris war die Fleischportion zu groß. Wenn er das knusprig gebackene Eisbein auch nur zur Hälfte geschafft hatte, er hat es mit Appetit gegessen. Das würzig zubereitete Sauerkraut schmeckte ihm besonders gut. Als Getränk hatte er sich ein Pilsener Urquell bestellt, das zum fettigen Essen passte. Als Nachtisch gab es Vanillepudding mit Preißelbeeren. Nach dem Essen zog er sich in sein Zimmer mit der Nummer 7 im ersten Stock zurück, um sich zu entspannen. Er schlug die Bettdecke zurück und legte sich aufs Bett. Schlafen konnte er nicht, dafür war auch die Zeit zu kurz, die ihm blieb, um sich mit Vera vor dem Hoteleingang zu treffen. Er war mit dem Ablauf des Vormittags zufrieden, war doch das Brahms-Konzert gut verlaufen. Zwei kleine Schnitzer waren zwar unbemerkt unterlaufen, doch er wusste sie und wollte sie bei der Generalprobe am Morgen der Konzertaufführung nicht mehr machen. Wieder ging das ‘Andante’ aus Tschaikowsky’s Fünfter ihm durch den Sinn, und mit dem ‘Andante’ trat nun auch das Gesicht der alten Dame Lydia Grosz neben den anderen Assoziationen vor sein geistiges Auge. Doch da passte Boris auf, dass das Gesicht dieser Dame nicht auch noch an das Wolgaufer kam, wo schon Ilja Igorowitsch in angegriffener Verfassung stand und nach ihm rief.

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