Название: Multisystem-Erkrankungen erkennen und verstehen
Автор: Sibylle Reith
Издательство: Bookwire
Жанр: Медицина
isbn: 9783754949412
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So der Philosoph und Autor Bernd Scherer. 2015 erschien in Co-Autorenschaft mit Jürgen Renn, Direktor am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in München, das Buch Das Anthropozän: Zum Stand der Dinge. Der Begriff „Anthropozän“ – das Zeitalter des Menschen – wird mittlerweile von einer Gruppe renommierter Wissenschaftler für das gegenwärtige Erdzeitalter vertreten. Gemeint ist damit, dass der Mensch als dominierender Faktor durch menschengeschaffene Technologien und Infrastrukturen unsere Lebensbedingungen und die globalen Umgebungsfaktoren nachhaltig verändert hat.
Weit überwiegend sind heutige industriell anfallende oder produzierte Partikel, Strahlen, Gase und Substanzen – von Feinstaub über elektromagnetische Strahlung bis zu erdölbasierten Produkten und (Klima-)Gasen – nachweislich oder vermutlich gesundheitsschädigend. |
Veränderte Krankheiten
Kann es sein, dass diese veränderten Umweltfaktoren schleichend unsere grundlegenden Lebensfunktionen und damit unsere (Über-)Lebenstüchtigkeit verändern? Kann es sein, dass wir diese Veränderungen nicht begreifen, weil sie immer nur graduell unsere Gesundheit verändern? Weil sie komplex ablaufen, Ursachen und Wirkungen kaum fassbar sind? Haben wir es bei unserer Gesundheit mit ebenso komplexen Wirkungen zu tun wie bei der Erderhitzung? |
Prof. Naviaux macht darauf aufmerksam, dass die Antwort auf Zellgefahren vorindustriell in der Regel vollständig durchlaufen wurde und mit der Gesundung endete, während dieser Heilungsprozess heute blockiert wird und zu der Vielzahl chronischer Erkrankungen führt. Laut Prof. Naviaux erfordern heutige Erkrankungen ein völlig anderes Konzept, er spricht von einem „zweiten Buch der Medizin“.
Vorindustrielle Erkrankungen gleichen den heutigen so wenig wie Äpfel den Birnen, erklärte Naviaux bildlich in einem Vortrag. |
Die Grundthese des Buches, das Sie gerade lesen, ist, dass die Fülle moderner Stressoren als „multistressorische“ Gesamtlast“ (Umweltallergene, Schadstoffe, Zusatzstoffe in Nahrungsmitteln, psychosoziale Belastung, ständige Erreichbarkeit u.a.) an Quantität und Qualität ein Ausmaß erreicht haben, das durch die synergistische Dauer-Reizung unser Immunsystem überfordert und zu einer allmählichen oder plötzlichen gesundheitlichen Kapitulation führt.
Erworbene multisystemische Komplex-Erkrankungen können als die medizinische Signatur des Anthropozän verstanden werden. Die maximale biologische, psychische und chemische Belastbarkeit wird ständig überschritten, der Organismus durch die multistressorische, bzw. multifaktorielle Gesamtlast überfordert, chronisch geschwächt und somit vulnerabel. |
Die Krise des Immunsystems
Jetzt ist es an der Zeit, endlich die Dramatik der immunologischen Krise wahrzunehmen, die allmählich, aber absehbar unser (Über-)Leben gefährdet. Nicht nur unsere Lebensräume sind bedroht und unser wirtschaftliches Überleben – die Art, wie wir leben richtet sich gegen das Leben selbst.
Die Krise unseres Immunsystems führt zu einem massiven Verlust an Vitalität in der industrialisierten Bevölkerung. Sie ist ebenso real wie andere Krisen und erfordert beherztes und kooperatives Handeln von vielen.Erworbene Multisystemische Erkrankungen beruhen auf Fehlsteuerungen, die im Laufe des Lebens entstehen. Epigenetische Studien zeigen, dass mit deren Zunahme absehbar auch zukünftige Generationen geschwächt geboren werden. |
Systemische Epimedizin
Die aktuelle internationale Forschung zeigt den systemischen Netzwerkcharakter moderner Erkrankungen und stellt das konventionelle Paradigma, dass auf einen definierten Reiz (Ursache) eine definierte Reaktion (Wirkung) erfolgt, in Frage. Dieses Paradigma ist zweifellos die Grundlage unserer erfolgreichen akutmedizinischen Versorgung (Patient ist gestürzt – Knochen ist gebrochen: OP und/oder Gipsverband); es versagt jedoch bei komplexen systemischen, chronischen Erkrankungen.
Der Netzwerkcharakter der Erworbenen Multisystem-Erkrankungen wird unter dem Konzept „Systemische Epimedizin“ zusammengefasst. Diese Bezeichnung wird neu eingeführt und verweist auf die komplexen systemischen Wechselbeziehungen zwischen Umwelt und Genen, die sich in den Stoffwechselprozessen und -produkten widerspiegelt und durch Mitochondrien gesteuert wird. Der Begriff lehnt sich an die in Kapitel 28 beschriebene Wissenschaftsdisziplin der Epigenetik an. Die Systemische Epimedizin basiert auf einem systemmedizinischen Krankheitsverständnis, wie es z. B. in großangelegten Förderprojekten wie e:med vom Bundesministerium für Bildung und Forschung vorangetrieben wird. |
Der Begriff „Systemische Epimedizin“ wird als gemeinsamer Begriff vorgeschlagen, um auf mehrere Wissenschaftsdisziplinen und Forschungsansätze zu verweisen, die von Relevanz für das Verständnis multisystemische Komplex-Erkrankungen sind. Es geht um einen Ideenpool, der sehr unterschiedliche Ansätze miteinander in Beziehung setzt. |
Die Systemische Epimedizin ist eine Netzwerkwissenschaft
Sie umfasst folgende Wissenschaftsdisziplinen:
Die Mitochondrien-Medizin
Genetik und Epigenetik
Die Psycho-Neuro-Endokrino-Immunologie
Die Systemische Epimedizin ist keine neue Wissenschaftsdisziplin. Vielmehr wird unter diesem Leitbegriff Wissen transdisziplinär und in Bezug auf komplexe Krankheitsbilder vernetzt. Dazu gehören die genannten Schlüsseldisziplinen, alle drei bezeugen den immensen Einfluss heutiger Umweltfaktoren auf unsere Gesundheit.
Die molekulare PathogeneseDie „molekulare Pathogenese“ untersucht die pathologischen Veränderungen, die als Reaktion auf Umwelteinflüsse auf molekularer Ebene unter Beteiligung spezifischer Gene, Proteine und Signalwege entstehen. |
Integrierte Bestandteile innerhalb dieser übergreifenden Schlüsseldisziplinen sind:
Die Exposom-Forschung inklusive „Early life Exposom-Stress“. Die Exposom-Forschung wurde 2015 eingeführt. Das Exposom stellt die Gesamtheit der (Umwelt-)Faktoren dar, denen wir lebenslang ausgesetzt sind, und die in bislang unterschätzter Weise zur Gesundheit oder zum Krankwerden beitragen. Das Exposom als Gesamtheit der Umwelteinflüsse ist das Gegenstück zum Genom (Gesamtheit unseres Erbgutes).
Die Stress- und Entzündungsforschung, inklusive early life stress/„developmental origins of health and disease“ (auf Deutsch: Frühe Programmierung von Krankheit und Gesundheit).
Die Evolutionsmedizin: Unser heutiger Organismus ist das dynamische Zwischenergebnis einer fortdauernden Evolution.
Die Gendermedizin/Geschlechtsspezifische Forschung.
Die Personalisierte Medizin (auch Präzisionsmedizin)
Die Klinische Umweltmedizin, inkl. Umwelt-Zahnmedizin.
Die Forschungen zum sogenannten Nitrosativen Stresszyklus von Prof. Martin L. Pall.
Die Forschungen zu der sogenannten Antwort auf Zellgefahren (Englisch: Cell Danger Response) von Prof. Robert Naviaux.
Die Mastzellforschung. Mastzellen (auch Mastozyten) gehören zu den weißen Blutkörperchen (Leukozyten). Sie sind Teil der körpereigenen Immunabwehr.
Abb. E/2 Systemische Epimedizin
Die Mehrzahl dieser (Forschungs-)Disziplinen war bis vor wenigen Jahren entweder noch völlig unbekannt oder zumindest nicht weit verbreitet. In jeder dieser jungen Disziplinen explodiert die Anzahl der Veröffentlichungen, die von bedeutender Relevanz für das Verständnis der EmKE sind.
Die Mehrzahl dieser (Forschungs-)Disziplinen
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