Zur Genealogie der Moral. Friedrich Nietzsche
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Название: Zur Genealogie der Moral

Автор: Friedrich Nietzsche

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

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isbn: 9783754172186

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СКАЧАТЬ anti-Kantische, so räthselhafte "kategorische Imperativ," dem ich inzwischen immer mehr Gehör und nicht nur Gehör geschenkt habe? ... Glücklicher Weise lernte ich bei Zeiten das theologische Vorurtheil von dem moralischen abscheiden und suchte nicht mehr den Ursprung des Bösen hinter der Welt. Etwas historische und philologische Schulung, eingerechnet ein angeborner wählerischer Sinn in Hinsicht auf psychologische Fragen überhaupt, verwandelte in Kürze mein Problem in das andre: unter welchen Bedingungen erfand sich der Mensch jene Werthurtheile gut und böse? und welchen Werth haben sie selbst? Hemmten oder förderten sie bisher das menschliche Gedeihen? Sind sie ein Zeichen von Nothstand, von Verarmung, von Entartung des Lebens? Oder umgekehrt, verräth sich in ihnen die Fülle, die Kraft, der Wille des Lebens, sein Muth, seine Zuversicht, seine Zukunft?— Darauf fand und wagte ich bei mir mancherlei Antworten, ich unterschied Zeiten, Völker, Ranggrade der Individuen, ich spezialisirte mein Problem, aus den Antworten wurden neue Fragen, Forschungen, Vermuthungen, Wahrscheinlichkeiten: bis ich endlich ein eignes Land, einen eignen Boden hatte, eine ganze verschwiegene wachsende blühende Welt, heimliche Gärten gleichsam, von denen Niemand Etwas ahnen durfte ... Oh wie wir glücklich sind, wir Erkennenden, vorausgesetzt, dass wir nur lange genug zu schweigen wissen! ...

      Den ersten Anstoss, von meinen Hypothesen über den Ursprung der Moral Etwas zu verlautbaren, gab mir ein klares, sauberes und kluges, auch altkluges Büchlein, in welchem mir eine umgekehrte und perverse Art von genealogischen Hypothesen, ihre eigentlich englische Art, zum ersten Male deutlich entgegentrat, und das mich anzog—mit jener Anziehungskraft, die alles Entgegengesetzte, alles Antipodische hat. Der Titel des Büchleins war "Der Ursprung der moralischen Empfindungen"; sein Verfasser Dr. Paul Rée; das Jahr seines Erscheinens 1877. Vielleicht habe ich niemals Etwas gelesen, zu dem ich dermaassen, Satz für Satz, Schluss für Schluss, bei mir nein gesagt hätte wie zu diesem Buche: doch ganz ohne Verdruss und Ungeduld. In dem vorher bezeichneten Werke, an dem ich damals arbeitete, nahm ich gelegentlich und ungelegentlich auf die Sätze jenes Buches Bezug, nicht indem ich sie widerlegte—was habe ich mit Widerlegungen zu schaffen!—sondern, wie es einem positiven Geiste zukommt, an Stelle des Unwahrscheinlichen das Wahrscheinlichere setzend, unter Umständen an Stelle eines Irrthums einen andern. Damals brachte ich, wie gesagt, zum ersten Male jene Herkunfts-Hypothesen an's Tageslicht, denen diese Abhandlungen gewidmet sind, mit Ungeschick, wie ich mir selbst am letzten verbergen möchte, noch unfrei, noch ohne eine eigne Sprache für diese eignen Dinge und mit mancherlei Rückfälligkeit und Schwankung. Im Einzelnen vergleiche man, was ich Menschl. Allzumenschl. S. 51 [Menschliches, Allzumenschliches, §45], über die doppelte Vorgeschichte von Gut und Böse sage (nämlich aus der Sphäre er Vornehmen und der der Sklaven); insgleichen S. 119 ff. [Menschliches, Allzumenschliches, §136] über Werth und Herkunft der asketischen Moral; insgleichen S. 78. 82. [Menschliches, Allzumenschliches, §§96 und 99] II, 35 [Vermischte Meinungen und Sprüche, §89] über die "Sittlichkeit der Sitte," jene viel ältere und ursprünglichere Art Moral, welche toto coelo von der altruistischen Werthungsweise abliegt (in der Dr. Rée, gleich allen englischen Moralgenealogen, die moralische Werthungsweise an sich sieht); insgleichen S.74. [Menschliches, Allzumenschliches, §92] Wanderer S. 29. [Der Wanderer und sein Schatten, §26] Morgenr. S. 99 [Morgenröthe, §112] über die Herkunft der Gerechtigkeit als eines Ausgleichs zwischen ungefähr Gleich-Mächtigen (Gleichgewicht als Voraussetzung aller Verträge, folglich alles Rechts); insgleichen über die Herkunft der Strafe Wand. S. 25. 34. [Der Wanderer und sein Schatten, §§22 und 33], für die der terroristische Zweck weder essentiell noch ursprünglich ist (wie Dr. Rée meint:—er ist ihr vielmehr erst eingelegt, unter bestimmten Umständen, und immer als ein Nebenbei, als etwas Hinzukommendes).

      Im Grunde lag mir gerade damals etwas viel Wichtigeres am Herzen als eigenes oder fremdes Hypothesenwesen über den Ursprung der Moral (oder, genauer: letzteres allein um eines Zweckes willen, zu dem es eins unter vielen Mitteln ist). Es handelte sich für mich um den Werth der Moral,—und darüber hatte ich mich fast allein mit meinem grossen Lehrer Schopenhauer auseinanderzusetzen, an den wie an einen Gegenwärtigen jenes Buch, die Leidenschaft und der geheime Widerspruch jenes Buchs sich wendet (—denn auch jenes Buch war eine "Streitschrift"). Es handelte sich in Sonderheit um den Werth des "Unegoistischen," der Mitleids-, Selbstverleugnungs-, Selbstopferungs-Instinkte, welche gerade Schopenhauer so lang vergoldet, vergöttlicht und verjenseitigt hatte, bis sie ihm schliesslich ah die "Werthe an sich" übrig blieben, auf Grund deren er zum Leben, auch zu sich selbst, Nein sagte. Aber gerade gegen diese Instinkte redete aus mir ein immer grundsätzlicherer Argwohn, eine immer tiefer grabende Skepsis! Gerade hier sah ich die grosse Gefahr der Menschheit, ihre sublimste Lockung und Verführung—wohin doch? in's Nichts?—gerade hier sah ich den Anfang vom Ende, das Stehenbleiben, die zurückblickende Müdigkeit, den Willen gegen das Leben sich wendend, die letzte Krankheit sich zärtlich und schwermüthig ankündigend: ich verstand die immer mehr um sich greifende Mitleids-Moral, welche selbst die Philosophen ergriff und krank Machte, als das unheimlichste Symptom unsrer unheimlich gewordnen europäischen Cultur, als ihren Umweg zu einem neuen Buddhismus? zu einem Europäer-Buddhismus? zum—Nihilismus? ... Diese moderne Philosophen-Bevorzugung und Überschätzung des Mitleidens ist nämlich etwas Neues: gerade über den Unwerth des Mitleidens waren bisher die Philosophen übereingekommen. Ich nenne nur Plato, Spinoza, La Rochefoucauld und Kant, vier Geister so verschieden von einander als möglich, aber in Einem Eins: in der Geringschätzung des Mitleidens. — [Vgl. Platon, Der Staat, 606a-606b; Baruch de Spinoza, Ethica more geometrico demonstrata, §50; François de La Rochefoucauld, Réflexions ou Sentences et Maximes Morales, §264; und Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft.]

      Dies Problem vom Werthe des Mitleids und der Mitleids-Moral (—ich bin ein Gegner der schändlichen modernen Gefühlsverweichlichung—) scheint zunächst nur etwas Vereinzeltes, ein Fragezeichen für sich; wer aber einmal hier hängen bleibt, hier fragen lernt, dem wird es gehn, wie es mir ergangen ist:—eine ungeheure neue Aussicht thut sich ihm auf, eine Möglichkeit fasst ihn wie ein Schwindel, jede Art Misstrauen, Argwohn, Furcht springt hervor, der Glaube an die Moral, an alle Moral wankt,—endlich wird eine neue Forderung laut. Sprechen wir sie aus, diese neue Forderung: wir haben eine Kritik der moralischen Werthe nöthig, der Werth dieser Werthe ist selbst erst einmal in Frage zu stellen—und dazu thut eine Kenntniss der Bedingungen und Umstände noth, aus denen sie gewachsen, unter denen sie sich entwickelt und verschoben haben (Moral als Folge, als Symptom, als Maske, als Tartüfferie [vgl. Molière: Tartuffe], als Krankheit, als Missverständniss; aber auch Moral als Ursache, als Heilmittel, als Stimulans, als Hemmung, als Gift), wie eine solche Kenntniss weder bis jetzt da war, noch auch nur begehrt worden ist. Man nahm den Werth dieser "Werthe" als gegeben, als thatsächlich, als jenseits aller In-Frage-Stellung; man hat bisher auch nicht im Entferntesten daran gezweifelt und geschwankt, "den Guten" für höherwerthig als "den Bösen" anzusetzen, höherwerthig im Sinne der Förderung, Nützlichkeit, Gedeihlichkeit in Hinsicht auf den Menschen überhaupt (die Zukunft des Menschen eingerechnet). Wie? wenn das Umgekehrte die Wahrheit wäre? Wie? wenn im "Guten" auch ein Rückgangssymptom läge, insgleichen eine Gefahr, eine Verführung, ein Gift, ein Narcoticum, durch das etwa die Gegenwart auf Kosten der Zukunft lebte? Vielleicht behaglicher, ungefährlicher, aber auch in kleinerem Stile, niedriger? ... So dass gerade die Moral daran Schuld wäre, wenn eine an sich mögliche höchste Mächtigkeit und Pracht des Typus Mensch niemals erreicht würde? So dass gerade die Moral die Gefahr der Gefahren wäre? ...

      Genug, dass ich selbst, seitdem mir dieser Ausblick sich öffnete, Gründe hatte, mich nach gelehrten, kühnen und arbeitsamen Genossen umzusehn (ich thue es heute noch). Es gilt, das ungeheure, ferne und so versteckte Land der Moral—der wirklich dagewesenen, wirklich gelebten Moral—mit lauter neuen Fragen und gleichsam mit neuen Augen zu bereisen: und heisst dies nicht beinahe soviel als dieses Land erst entdecken? ... Wenn ich dabei, unter Anderen, auch an den genannten Dr. Rée dachte, so geschah es, weil ich gar nicht zweifelte, dass er von der Natur seiner Fragen СКАЧАТЬ