Leo Deutsch: Sechzehn Jahre in Sibirien. Leo Deutsch
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Название: Leo Deutsch: Sechzehn Jahre in Sibirien

Автор: Leo Deutsch

Издательство: Bookwire

Жанр: Социология

Серия: gelbe Buchreihe

isbn: 9783754172889

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СКАЧАТЬ von 60 bis 70 Jahren und hatte den Rang eines Generals; er war bekannt als roher und geradezu grausamer Patron, wofür er mir alsbald den Beweis lieferte. Er tat mir die Augenlider in die Höhe, streifte mich mit einem drohenden Blick und erklärte kurzerhand, ich hätte durchaus normale Augen und brauche keine Brille. In Wirklichkeit aber leide ich nach Ansicht hervorragender Augenärzte an einer seltenen Anomalie der Augen und muss schon seit dem achtzehnten Lebensjahr eine Brille beim Lesen benutzen.

      Die Weigerung des Gefängnisarztes erregte mich aufs äußerste, brachte mich der Verzweiflung nahe. Ich war bereit zu schreien, zu flehen und zu fluchen, nur mit Mühe konnte ich mich beherrschen.

      „Ich bitte Sie, Sie irren unbedingt, ich kann wahrhaftig ohne Brille nicht eine Zeile lesen!“ rief ich. „Bedenken Sie doch, was Sie tun: Sie verurteilen mich zu der schlimmsten Folter, indem Sie mir die einzige Zerstreuung rauben, die hier zulässig ist!“ Es half alles nichts, der Mann blieb unerschütterlich und wiederholte stumpfsinnig die Phrase: „Nein, Sie brauchen keine Brille“; damit ging er. Ich ballte krampfhaft die Fäuste, ohnmächtige Wut erfüllte mich. Noch ein Augenblick, und ich hätte die Selbstbeherrschung verloren...

      Doch was blieb mir übrig? Ich musste auch das ertragen. Was erträgt der Mensch nicht alles? Aber jedes Mal, wenn ich an diesen Arzt in der Rolle des Henkers dachte, wallte mein Blut auf. Es blieb mir als einziges Zerstreuungsmittel die Zigarette, sie wurde mein Freund und Genosse in der Einsamkeit. Für Gefangene ist überhaupt das Rauchen ein Hochgenuss, man fühlt sich dabei weniger verlassen, verstoßen.

      * * *

      Eine flüchtige Bekanntschaft

       Eine flüchtige Bekanntschaft

       Wieder schleppte ich meine Tage in qualvoller Untätigkeit hin ... Da drangen eines Morgens Laute an mein Ohr! Es wurde geklopft, und zwar in meiner nächsten Nähe. „Gilt es mir?“ Ich antwortete sofort mit den bekannten Zeichen durch einige Schläge an die Wand. Es galt mir. Welche Freude! Ich werde erfahren, wer von den Kameraden hier sitzt, werde mit einem Menschen Gedanken austauschen ... „Wer sind Sie? An welchem Prozess beteiligt?“ entziffere ich die Laute. Ich ergreife den Kamm, den einzigen beweglichen harten Gegenstand, der im Gefängnis zulässig ist, und klopfe meinen Namen. Mein Partner ist erstaunt: „Wie kommen Sie hierher?“ fragte er. „Und wer sind Sie?“ klopfe ich, „Kobiljanski“ war die Antwort.

      Ich war nicht minder erstaunt, ihm hier, wenn man sich so ausdrücken darf, zu „begegnen“. Persönlich hatten wir uns nicht kennen gelernt, doch wusste ich, dass er wegen Teilnahme an verschiedenen terroristischen Unternehmungen im Jahre 1880 zu lebenslänglicher Zwangsarbeit verurteilt wurde und vor längerer Zeit schon nach den sibirischen Bergwerken auf der Kara deportiert worden war. Wie kam er also nach der Peter-Pauls-Feste? Ich brannte vor Ungeduld, zu erfahren, was geschehen war. Aber ebenso ungeduldig war er, zu erfahren, wie es kam, dass man mich eingefangen. Ich musste nachgeben. Jedoch kaum hatte ich ihm in möglichst kurzen Sätzen mitgeteilt, dass man mich in Deutschland abgefasst und ausgeliefert hatte, wurde ich durch den Ruf unterbrochen:

      „Sie klopfen?!“

      Ich sprang auf und blickte mich um: vor mir stand Oberst Lesnik in Begleitung einiger Gendarmen; man hatte mich beobachtet, in aller Stille die Tür geöffnet und mich überrascht. Ein Ausweichen gab es nicht, da ich ja auf frischer Tat ertappt wurde.

      „Dass Sie es wissen: wenn Sie sich noch einmal unterstehen, Ähnliches zu treiben, so kommen Sie wieder in das Erdgeschoss, und ich entziehe Ihnen die Erlaubnis, zu rauchen und spazieren zu gehen.“ Damit ging er.

      Ich fühlte mich in der Lage eines Schulbuben, den man wegen einer Unart abgekanzelt hat. Das Klopfen wird überall in den Gefängnissen verboten, aber es ist ein menschliches Bedürfnis, wie das Sprechen für jeden Menschen. Vorläufig musste ich jedoch die Hoffnung aufgeben, zu erfahren, warum Kobiljanski aus Sibirien zurückgebracht ward. [Später erfuhr ich darüber folgendes: Im Mai 1882 waren einige der politischen Verbrecher aus dem Kerker auf der Kara entsprungen; sie wurden bald wieder eingefangen. Darauf wurden die furchtbarsten Maßregeln in jenem Kerker eingeführt und beschlossen, die „besonders gefährlichen Elemente“ fortzuschaffen. Man wählte nach den blödesten Motiven dreizehn Mann, von denen nur vier an der Flucht teilgenommen, und schaffte sie nach der Peter-Pauls-Feste und später nach Schlüsselburg, wo ein besonderes Gefängnis für politische Verbrecher mit geradezu entsetzlichem Regime eingerichtet wurde. Unter diesen befand sich Kobiljanski, obwohl er nicht an der Flucht teilgenommen hatte. Fast alle diese Unglücklichen fanden in der Schlüsselburger Feste ihren Tod: Butsinski, Gelis, Ig. Iwanoff, Kobiljanski, Jurkowski und Tschedrin. Nur einer lebt noch – Michael Popoff.]

       Kurze Zeit nach diesem Vorfall wurde mir zu ungewohnter Stunde mein Anzug gebracht. Ich nahm an, dass es einem Verhör gelte. Doch nein, man schien mich ganz fortschaffen zu wollen: es erschien der Gendarmeriekapitän, der mich von der Bahn hergebracht hatte, mein Gepäck wurde herbeigeschafft.

      „Wohin geht es, nach Odessa?“ Der Offizier gab keine Antwort.

      „Wahrscheinlich führt man mich zur Bahn“, dachte ich, als ich in Gesellschaft des Kapitäns in der Droschke saß.

      Es war einer jener Übergangspunkte während der „weißen Nächte“ in Petersburg, wo man sich nicht klar wird, ob es dämmert oder tagt. Das Wetter war herrlich, und ich fühlte mich erleichtert bei dem Gedanken an die Reise nach Odessa. Doch nein, der Wagen schlägt einen anderen Weg ein, es geht nicht nach dem Bahnhof. Bald hielten wir im Hofe eines gewaltigen Steinbaues, es war das Untersuchungsgefängnis.

      * * *

      VII. Veränderte Gefängnisordnung

       VII. Veränderte Gefängnisordnung

      Als der Gendarmerieoffizier mich dem Gefängnisdirektor übergab, deutete er mit dem Finger auf eine Stelle in dem Begleitschein. Jener fixierte mich hierauf scharf: es war klar, dass es sich um die Warnung handelte, mich streng zu überwachen wegen meiner früheren Flucht.

      Ich sah sofort, dass die Gefängnisordnung hier minder scharf war: meine Habseligkeiten wurden mir, nachdem sie noch einmal visitiert waren, in die Zelle gebracht. Als ich sie zu Gesichte bekam, sah ich vor allen Dingen nach, ob das verborgene Geld und die Schere noch vorhanden waren, und richtig, ich fand sie! Trotz der eifrigen Untersuchung in der Feste und hier hatte man sie ebenso wenig gefunden wie bei den früheren Visitationen. Die Schere versteckte ich auf alle Fälle wieder, die deutschen Banknoten wollte ich wechseln, um wenigstens einen Teil des Geldes zur Verfügung zu haben. Das war freilich nicht so einfach! Ich begann die Schließer zu beobachten; es waren ihrer drei auf dem Korridor, an dem meine Zelle lag. Am zugänglichsten schien mir der, welcher mein Gepäck untersucht hatte, und ich beschloss, ihn zu kapern. Ich holte das Geld aus dem Versteck und rief den Mann, als er Dienst hatte, in meine Zelle.

      „Was wünschen Sie?“ fragte er eintretend und die Türe hinter sich schließend.

      „Haben Sie mein Gepäck richtig durchsucht, als man mich hier einlieferte?“

      „Ja freilich! Was ist los?“ Er tat ganz erschrocken.

      „Ei, nichts Besonderes“, beruhigte ich ihn. „Nur muss ich Ihnen sagen, dass Sie nicht zu suchen verstehen. Da sehen Sie, das Geld war dabei, Sie haben es nicht gefunden.“ Damit hielt ich ihm die Banknoten unter die Nase.

      „Das kann nicht sein, ist ganz unmöglich! Ich habe alles durchsucht. Wo hatten Sie es versteckt?“

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