Название: Leo Deutsch: Sechzehn Jahre in Sibirien
Автор: Leo Deutsch
Издательство: Bookwire
Жанр: Социология
Серия: gelbe Buchreihe
isbn: 9783754172889
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III. Ungewissheit
III. Ungewissheit
Lange Zeit noch musste ich im Freiburger Gefängnis bleiben, fortwährend zwischen der Hoffnung auf baldige Befreiung und der Verzweiflung, dass man mich an Russland ausliefern würde, hin und her schwankend. Jeden Tag änderte sich daher meine Gemütsstimmung sehr oft. Dieser ewige Wechsel wirkte furchtbar deprimierend auf mich. Tödlich langsam schleppte sich die Zeit hin; endlos wurden die Tage, obgleich ich mich auf alle mögliche Weise zu beschäftigen suchte. Mit Büchern war ich versehen; dafür sorgten meine Kameraden und Professor Thun; Schreibzeug hatte man mir bewilligt. So las ich denn viel und suchte meine Gedanken, Eindrücke und selbst Erinnerungen zu Papier zu bringen.
Aber nicht nur die Ungewissheit des eigenen Schicksals und die quälende Befürchtung einer Auslieferung an Russland wirkten auf mich ein, auch der Gedanke an das Schicksal meiner Freunde und die weitere Entwicklung des „Bundes für Befreiung der Arbeit“ machte mir Sorgen. Unsere junge Organisation war noch im Stadium des Werdens. Wir waren ein an Zahl geringes Häuflein, und die Mittel waren gar karg. Als ich nach Deutschland ging, um unsere Erstlinge über die Grenze zu schaffen, hatte ich gleichzeitig den Plan, den Transport für die Zukunft zu organisieren. Nebenbei hatte ich noch verschiedene Angelegenheiten sowohl in Bezug auf die Geldbeschaffung als auf die Organisation zu erledigen. Bei meiner Abreise aus der Schweiz hatte ich gleichfalls eine Menge der verschiedensten Geschäfte zurückgelassen, die meine möglichst baldige Rückkehr erforderten. Alle meine Genossen hatten die Hände voll zu tun, jedem war die Zeit kostbar. Und nun saß ich nicht nur hier im Gefängnis, verdammt zur Untätigkeit, sondern auch alle übrigen Mitglieder unseres Bundes waren in ihrer Tätigkeit gelähmt, weil sie den Lauf meiner Affäre verfolgen mussten, um auf diese oder jene Weise für meine Befreiung zu wirken. Das Bewusstsein, an dieser Hemmung unserer Zukunftspläne, wenn auch unfreiwillig, schuld zu sein, wirkte niederschlagend auf mich. Schon diese Dinge allein steigerten meine Ungeduld aufs höchste.
Meine Lage kann man sich, glaube ich, vorstellen, wenn man sich einen Menschen denkt, der ein höchst wichtiges und dringendes Geschäft zu besorgen hat und plötzlich ein Bein bricht, so dass er, statt sein Ziel zu erreichen, ins Krankenhaus gerät. Aber dieser Bedauernswerte würde dann von seinem physischen Schmerz gänzlich beherrscht; ich dagegen war frei von solchem Schmerz, aber gerade deshalb steigerten sich meine seelischen Folterqualen ins unendliche.
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Gefängniszustände
Gefängniszustände
Die Zustände im Gefängnis ließen manches zu wünschen übrig. In der ersten Zeit war mir die Gefängnisordnung geradezu unausstehlich, bis ich mich dann allmählich an die deutschen Einrichtungen gewöhnte. – Wie bereits erwähnt, werden die Zellen bei Nacht niemals beleuchtet, und den Gefangenen bleibt dann nichts weiter übrig, als die ganze lange Zeit zu verschlafen. Wie ich später erfuhr, verweigerte man Licht aus Furcht vor Feuersgefahr, und aus demselben Grunde war das Rauchen verboten; was aber hier brennen sollte, war mir nicht recht klar, da außer den Türen, den Fensterrahmen und den Fußböden kein Holz vorhanden und das Gebäude ein massiver Steinbau war? [Später, während meines Aufenthalts in Sibirien, fiel mir oft diese übertriebene Vorsorge in dem deutschen Gefängnis ein. Dort werden Tausende von Gefangenen, die zu Zwangsarbeit oder Verbannung verurteilt sind, in alten hölzernen Baracken untergebracht, die als Gefängnis und Etappenstationen dienen; stets werden diese Bauten beleuchtet und wird den Gefangenen das Rauchen ruhig gestattet. An Feuersgefahr denkt kein Mensch in diesen Gefängnissen.] Dieser Zwang, die langen Abende ohne Licht zuzubringen, und das Rauchverbot müssen jedenfalls von vielen nicht nur als Entbehrung, sondern direkt als harte Strafe empfunden werden. Zu strafen hatte man aber in diesem Gefängnis überhaupt kein Recht, da es sich ja um Leute handelte, deren Schuld noch gar nicht erwiesen war.
Das Verhalten des Gefängnispersonals den Gefangenen gegenüber war jedenfalls von Milde recht weit entfernt. Mir passierte zum Beispiel gleich in den ersten Tagen folgendes: Der Spaziergang im Gefängnishofe war für alle Insassen eines Korridors gemeinsam; im Gänsemarsch mussten wir beständig herumtrotten, immer einige Schritte einer von dem anderen entfernt. Man kommt sich dabei vor wie ein Gaul, der am Seil in der Reitbahn herumgetrieben wird, und wie ich empfinden viele Gefangene diese Prozedur als eine beleidigende Erniedrigung und verzichten lieber ganz auf die Gelegenheit, frische Luft zu schöpfen. Bei einem solchen Spaziergang nun sah ich eines Tages, wie der militärische Wachtposten im Gefängnishofe abgelöst wurde. Das Schauspiel des deutschen Stechschrittes und der Gewehrgriffe war mir neu, und unwillkürlich blieb ich einen Moment stehen und störte damit die schöne Ordnung, indem ich den Abstand gegen meine Vorder- und Hintermänner nicht wahrte und vielleicht auch einen halben Schritt aus der Linie kam. Plötzlich fühlte ich, wie mich jemand an der Schulter packte und unter grobem Geschimpfe fortzerrte. Ich wusste nicht recht, was mir geschah, und kam erst zur Besinnung, als mich der Schließer in der Zelle, wohin er mich geschleppt hatte, anschnauzte. Der Mann gebärdete sich wie besessen und drohte, er würde mir den Spaziergang entziehen, wenn ich mich noch einmal unterstehe, mich derart zu betragen. Anfangs konnte ich absolut nicht begreifen, welches Verbrechen ich begangen haben sollte. Als ich dann dahinter kam, dass es sich einzig um den sekundenlangen unwillkürlichen Aufenthalt handelte, kam die Reihe wütend zu werden an mich, das war mir doch zu bunt! Jetzt fuhr ich den Wärter an, wie er sich unterstehen könne, mich derart zu behandeln; selbst ein Sträfling brauche es sich nicht gefallen zu lassen, dass man ihn puffe und zerre, wenn er zufällig aus der Reihe komme; und wenn ein so harmloser Vorgang derart als Verbrechen gegen die deutsche Gefängnisordnung betrachtet werde, so sei es verfluchte Pflicht und Schuldigkeit, mir das vorher zu sagen, ich würde mir eine solche Behandlung noch lange nicht gefallen lassen usw. Das wirkte; der Mann zog alsbald sanftere Saiten auf, und seither standen wir auf friedlichem Fuße miteinander.
Die Kost im Gefängnis war quantitativ unbedingt ungenügend, reichte auf keinen Fall zur Sättigung eines erwachsenen Menschen. Wenn ich mich recht erinnere, bestand sie aus anderthalb Pfund Roggenbrot täglich, und zweimal am Tage wurde irgendeine Suppe oder ein Brei verabreicht. Fleisch bekamen die Gefangenen im ersten Monat nur zweimal wöchentlich und dabei in ganz mikroskopischen Portionen. Selbst die Wächter gaben zu, dass ein Gefangener, der nicht die Mittel besitzt, Extrakost zu bestreiten, sich nicht sattessen kann.
Die Zellen dagegen im ersten Stock, besonders soweit die Fenster nach der Straße lagen wie in der Zelle, die ich zu Anfang innehatte, waren geräumig, hell und sauber. An Möbeln war ein Tisch vorhanden, ein Schemel und ein Bett; dieses bestand aus einer Matratze, einem Strohkissen und einer dünnen wollenen Decke. In einem Winkel der Zelle stand der Ofen, der vom Korridor aus geheizt wurde und von unten bis oben mit einem starken Eisengitter umgeben war; dies um einen Fluchtversuch durch den Kamin zu verhindern. An einer der Wände hing die Hausordnung, in der den Inhaftierten die verschiedensten Disziplinarstrafen für die geringfügigsten Übertretungen der Vorschriften angedroht wurden. Alle diese Vorschriften hatten den Zweck, der Verwaltung Mühe zu sparen und den Unterhalt der Inhaftierten möglichst sparsam zu gestalten. Auf den Inhaftierten wurde nicht die geringste Rücksicht genommen. Das eigentümliche war eben, dass in diesem Untersuchungsgefängnis die Inhaftierten nicht behandelt СКАЧАТЬ