Название: Peter Camenzind
Автор: Герман Гессе
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783754176856
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Rösi Girtanner begegnete mir fast jeden Tag, wenn ich zu Tische ging. Eine Jungfer von siebzehn Jahren, fest und biegsam gewachsen. Aus dem schmalen, bräunlich frischen Gesicht sprach die stille beseelte Schönheit, welche ihre Mutter zur Stunde noch besaß und welche vor ihr Ahne und Urahne gehabt hatte. Aus diesem alten, vornehmen und gesegneten Haus war von Geschlecht zu Geschlecht eine große, schmucke Reihe von Frauen ausgegangen, jede still und vornehm, jede frisch, adlig und von fehlerloser Schönheit. Es gibt von einem unbekannten Meister ein Mädchenbildnis aus der Familie der Fugger, im sechzehnten Jahrhundert gemalt und eines der köstlichsten Bilder, die meine Augen gesehen haben. So ähnlich waren die Girtannerschen Frauen und so war auch Rösi.
Das alles wußte ich damals freilich nicht. Ich sah sie nur in ihrer stillen, heiteren Würde schreiten und fühlte das Adelige ihres schlichten Wesens. Dann saß ich Abends nachsinnend in der Dämmerung, bis es mir gelang, ihre Erscheinung mir klar und gegenwärtig vorzustellen, und dann lief ein süßes heimliches Grausen über meine knabenhafte Seele. In Bälde kam es aber, daß diese Augenblicke der Lust sich trübten und mir bittere Schmerzen machten. Ich empfand plötzlich, wie fremd sie mir sei, mich nicht kenne noch mir nachfrage, und daß mein schönes Traumbild ein Diebstahl an ihrem seligen Wesen sei. Und eben wenn ich das so scharf und peinigend fühlte, sah ich ihr Bild immer für Augenblicke so wahr und atmend lebendig vor Augen, daß eine dunkle, warme Woge mein Herz überflutete und mir bis in die fernsten Pulse seltsam wehe tat.
Bei Tage geschah es mitten in einer Lehrstunde oder mitten in einem heftigen Raufen, daß die Woge wiederkam. Dann schloß ich die Augen, ließ die Hände sinken und fühlte mich in einen lauen Abgrund gleiten, bis mich der Aufruf des Lehrers oder der Faustschlag eines Kameraden erweckte. Ich entzog mich, lief ins Freie und staunte mit wunderlicher Träumerei in die Welt. Nun sah ich plötzlich, wie schön und farbig alles war, wie Licht und Atem durch alle Dinge floß, wie klargrün der Fluß und wie rot die Dächer und wie blau die Berge waren. Diese mich umgebende Schönheit zerstreute mich aber nicht, sondern ich genoß sie still und traurig. Je schöner alles war, desto fremder schien es mir, der ich keinen Teil daran hatte und außerhalb stand. Darüber fanden meine dumpfen Gedanken den Weg zu Rösi zurück: Wenn ich in dieser Stunde stürbe, sie würde es nicht wissen, nicht danach fragen, nicht darüber betrübt sein!
Dennoch verlangte mich nicht danach von ihr bemerkt zu werden. Ich hätte gern etwas Unerhörtes für sie getan oder ihr geschenkt, ohne daß sie gewußt hätte von wem es kam.
Und ich tat auch vieles für sie. Es kam eben eine kurze Ferienzeit und ich ward nach Hause geschickt. Dort leistete ich täglich allerlei Kraftstücke, alles in meiner Meinung Rösi zu Ehren. Einen schwierigen Gipfel erstieg ich von der steilsten Seite. Auf dem See machte ich übertriebene Fahrten im Weidling, große Entfernungen in knapper Zeit. Nach einer solchen Fahrt, da ich ausgebrannt und verhungert zurück kam, fiel mir ein, bis zum Abend ohne Speise und Trank zu bleiben. Alles für Rösi Girtanner. Ich trug ihren Namen und Lobpreis auf entlegene Grate und in nie besuchte Klüfte.
Zugleich büßte dabei meine in der Schulstube verhockte Jugend ihre Lust. Die Schultern gingen mir mächtig auseinander, Gesicht und Nacken ward braun und überall dehnten sich und schwollen die Muskeln.
Am vorletzten Ferientag brachte ich meiner Liebe ein mühseliges Blumenopfer. Zwar wußte ich an mehreren verlockenden Hängen auf schmalen Erdbändern Edelweiß stehen, aber diese duft- und farblose, krankhafte Silberblüte war mit stets seelenlos und wenig schön erschienen. Dafür kannte ich ein paar vereinsamte Alpenrosenbüsche, in die Furche einer kühnen Fluh verweht, spätblühend und verlockend schwer zu erreichen. Nun, es mußte gehen. Und da denn der Jugend und Liebe nichts unmöglich ist, gelangte ich mit zerschundenen Händen und krampfigen Schenkeln schließlich zum Ziel. Juchezen konnte ich in meiner bangen Lage nicht, aber das Herz jodelte und lärmte mir vor Lust, als ich vorsichtig die zähen Zweige durchschnitt und die Beute in den Händen hielt. Zurück mußte ich, die Blumen im Mund, rücklings klettern und Gott allein weiß, wie ich frecher Knabe heil den Fuß der Wand erreichte. Am ganzen Berg war die Blüte der Alpenrosen lang vorüber, ich hatte die letzten Zweige des Jahres knospend und zarterblühend in der Hand.
Andern Tags hielt ich die Blumen während der ganzen fünfstündigen Reise in den Händen. Anfangs schlug das Herz mir mächtig der Stadt der schönen Rösi entgegen; je ferner aber das Hochgebirge ward, desto stärker zog die eingeborene Liebe mich zurück. Ich erinnere mich so gut an jene Eisenbahnfahrt! Der Sennalpstock war schon lange unsichtbar, nun sanken aber auch die zackigen Vorberge einer um den andern hinab und jeder löste sich mit feinem Wehgefühl von meinem Herzen. Nun waren alle heimischen Berge versunken und eine breite, niedere, hellgrüne Landschaft drängte sich hervor. Das hatte mich bei meiner ersten Reise gar nicht berührt. Diesmal aber ergriff mich Unruhe, Angst und Trauer, als wäre ich verurteilt weiter in immer flachere Länder hinein zu fahren und die Berge und das Bürgerrecht der Heimat unwiderbringlich zu verlieren. Zugleich sah ich immer das schöne, schmale Gesicht der Rösi vor mir stehen, so fein und fremd und kühl und meiner unbekümmert, daß mir Erbitterung und Schmerz den Atem verhielt. Vor den Fenstern glitten hintereinander die frohen, sauberen Ortschaften mit schlanken Türmen und weißen Giebeln vorüber und Menschen stiegen aus und ein, redeten, grüßten, lachten, rauchten und machten Witze, — lauter fröhliche Unterländer, gewandte, freimütige und polierte Leute, und ich schwerer Bursch vom Oberland saß stumm und traurig und verbissen damitten. Ich fühlte, daß ich nicht mehr heimisch war. Ich empfand, daß ich den Bergen für immer entrissen war und doch nie werden würde wie ein Unterländer, nie so froh, so gewandt, so glatt und sicher. So einer wie diese würde sich immer über mich lustig machen, so einer würde die Girtanner einmal heiraten und so einer würde mir immer im Weg und um einen Schritt voraus sein.
Solche Gedanken brachte ich mit zur Stadt. Dort stieg ich nach der ersten Begrüßung auf den Dachboden, öffnete meine Kiste und entnahm ihr einen großen Bogen Papier. Es war nicht vom feinsten und als ich meine Alpenrosen darein gewickelt und das Paket mit einem extra von Hause mitgebrachten Bindfaden verschnürt hatte, sah es gar nicht wie eine Liebesgabe aus. Ernsthaft trug ich es in die Straße, wo der Advokat Girtanner wohnte, und im ersten günstigen Augenblick trat ich durchs offene Tor, sah mich in der abendlich halblichten Hausflur ein wenig um und legte mein unförmliches Bündel auf der breiten, herrschaftlichen Treppe ab.
Niemand sah mich und ich erfuhr nie, ob Rösi meinen Gruß zu sehen bekommen habe. Aber ich war an Flühen geklettert und hatte mein Leben gewagt, um einen Zweig Rosen auf die Treppe ihres Hauses zu legen, und darin lag etwas Süßes, Traurigfrohes, Poetisches, das mir wohltat und das ich noch heut empfinde. Nur in gottlosen Stunden scheint es mir zuweilen, als sei jenes Rosenabenteuer so gut wie alle meine späteren Liebesgeschichten eine Donquichotterie gewesen.
Diese meine erste Liebe fand nie einen Abschluß, sondern verklang fragend und unerlöst in meine Jugendjahre und lief neben meinen späteren Verliebtheiten wie eine stille ältere Schwester mit. Immer noch kann ich mir nichts nobleres, reineres und schöneres vorstellen als jene junge, wohlgeborene und stillblickende Patrizierin. Und als ich manche Jahre später auf einer historischen Ausstellung in München jenes namenlose, rätselhaft liebliche Bildnis der Fuggertochter sah, erschien mir, es stehe meine ganze schwärmerische, traurige Jugend vor mir und schaue mich aus unergründlichen Augen tief und verloren an.