Gedanken in Fernost. Jürgen Heiducoff
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Название: Gedanken in Fernost

Автор: Jürgen Heiducoff

Издательство: Bookwire

Жанр: Изобразительное искусство, фотография

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isbn: 9783738083071

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СКАЧАТЬ war ein magerer und zäher Mann, der sehr einfühlsam, aber auch jähzornig sein konnte. Sein struppiger Schnurrbart, seine kaukasische Nase und seine zweckmäßige, dem Trend nicht entsprechende Kleidung machten ihn zu einer unverwechselbaren Persönlichkeit weit über die Dorfgrenzen hinaus. Der störrische Paul hatte einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, den er an uns Jungen weitergeben wollte. Sein langes Leben war durch viele Begegnungen mit guten Menschen – wie er sagte – bereichert worden, aber auch geprägt durch Erlebnisse und Eindrücke unter unmenschlichen Bedingungen. Seine Lebensphilosophie gipfelte darin, keinem Menschen automatisch Ehrfurcht entgegenzubringen oder gar Scheu zu empfinden. Er war zutiefst geprägt von den Ideen des Humanismus. Ich war von seinem Einfluss bestimmt.

      Noch lange bevor in der Schule Geografie auf dem Lehrplan stand, hatte mich mein Großvater Paul für ferne Welten begeistert. Gern schloss er mich in seine Träume ein. Er konnte stundenlang von den Bergen des Kaukasus, von Persien und von Mittel und Ostasien erzählen, als habe er sein halbes Leben dort verbracht. Er vermochte es, von den Menschen im Süden Russlands zu schwärmen, als seien es seine Verwandten. Sicher lag diesem Schwärmen der Wunsch zugrunde, der Welt der fünfziger Jahre im verarmten Sachsen wenigstens in der Fantasie zu entfliehen. Was bot das kleine westsächsische Ramsdorf schon? Sollte dieses Leben das sein, wofür er als Veteran der deutschen Arbeiterbewegung gekämpft hat?

      Er war mit Leib und Seele Sozialdemokrat und sein Idol war stets August Bebel, dessen Foto über seinem Bett hing. Von Pieck mochte er nichts wissen. Über Ulbricht machte er sich lustig. Er hasste die Nazis und misstraute den Kommunisten.

      Eines Morgens rief er mich zu sich und sagte: „Junge, dein Leben wird dich in die Berge des Kaukasus und weiter nach Zentral- und Ostasien führen und du wirst von den Menschen tief beeindruckt sein! Glaube deinem alten Opa!“

      Sollte der alte Paul recht behalten?

      Meine liebe Mutter musste, nachdem mein Vater uns verlassen hatte, hart arbeiten, um ihren und meinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Täglich stand sie ihren „Mann“ in einer Reparaturwerkstatt für Bergbaugeräte. Sie kam erschöpft nach Hause.

      An den Wochenenden fanden sich die Frauen unserer Gasse zusammen, um Federn zu schließen, bei der Schlachtung Beistand zu erweisen oder Tabak zu schneiden. Vieles wurde gemeinsam getan. Und die Familien standen sich gegenseitig bei, wenn es erforderlich war. Ich betrachtete dies als selbstverständlich. Viele Jahre danach ist von dieser Wärme, von diesem Beistand und von dieser Solidarität auch in Sachsen nichts mehr geblieben.

      An den Sommerabenden fanden sich die Leute auf der Borngasse zusammen, tratschten oder spielten Ball. Es war sehr staubig, denn die Gasse verfügte weder über einen Pflaster- noch Asphaltbelag. Nach starkem Regen verwandelte sich die Gasse in einen Morastpfuhl.

      Gern streifte ich als Junge durch die Wiesen und Wälder zwischen Pleiße und Schnauder – meiner Heimat. Ich war ein Einzelgänger – leider nicht nur in der Kindheit. Ich blieb auch später in den Kollektiven des real existierenden Sozialismus ein konsequenter Individualist.

      Zu gern kletterte ich auf eine der Weiden, deren Äste das Wasser der Schnauder zerpflügten. Bei einer Hand voll Sauerampfer oder geklautem Kohlrabi träumte ich. Nicht selten schlief ich vom monotonen Rauschen des Baches ein. Ich sah die Berge des Kaukasus, des Hindukusch, den Himalaja und die Weiten des Ostens vor mir – wie Großvater es mir beschrieben und gezeichnet hatte.

      Mein Heimatdorf wurde umflossen von der Schnauder – einem Bach, der der Landschaft zwischen den Braunkohlentagebauen einen gewissen Reiz verlieh. Hinten am Bergholz tangiert der Bach den nahen Kammerforst. Der war für die Jungen des Dorfes von besonderer Romantik. Sie spielten ihren Phantasien entsprechende Kriegsspiele. Ich war dafür genau so wenig zu begeistern wie für Fußball. Am jenseitigen Waldrand hatte die nahe sowjetische Garnison einen Schießstand und die Salven waren bis ins Dorf zu hören. Für uns, auch für mich war es immer ein großes Erlebnis, zu den russischen Soldaten zu gehen. In der Regel durften wir während der Schießübungen zuschauen, die Patronenhülsen einsammeln und es ist auch vorgekommen, dass wir selbst schießen durften. An den Abenden saßen die Russen am Lagerfeuer und sangen ihre uns mystisch stimmenden Heimatlieder. Die Höhepunkte so mancher Woche waren für mich nicht etwa die Besuche der Tante und die Geschenke, die sie mitbrachte, sondern dies waren die Nachmittage und Abende bei den Russen. Dies prägte die Grundeinstellung für die folgenden Jahre wesentlich. Ich hatte als kleiner Junge den Eindruck, Russen sind alle Soldaten. Dass es ein ziviles Leben für die Russen gibt, kam mir erst spät in mein kindliches Bewusstsein.

      Opa war Porzellanmaler. Malen und Zeichnen waren seine Leidenschaften. Er vermochte es, zu jedem Thema, das wir tangierten, eine Zeichnung zu entwerfen. Das beeindruckte mich nachhaltig. Seine Phantasie war sehr stark ausgeprägt.

      Oft schlief ich an den Abenden bei Opa auf dem Sofa ein.

      Im Traum erschienen mir nicht selten die Menschen dieser fernen Welt, nahmen mich in ihre Welt auf und waren so, wie Paul sie mir beschrieb: stolz, gerecht, eigensinnig und unterwürfig zugleich und von unbeschreiblicher Gastfreundschaft. Es waren immer wieder die gleichen Personen, die meiner virtuellen Fantasie entsprangen. Heute kann ich mich des Eindruckes nicht erwehren, dass mir als Kind eben diese Menschen im Traum erschienen, die ich später kennen, achten und lieben lernte.

      Regelmäßig einmal in der Woche kam ein Chinese mit zwei großen Koffern durch unser Dorf. Meine Mutter rief ihn manchmal hoch in die Wohnküche. Er öffnete die Koffer und zeigte uns wunderschöne Seidenblusen oder Hemden, Buddhafiguren, Fächer und Handtücher in leuchtenden Farben. Mutter kaufte immer wieder Handtücher, obwohl wir doch schon so viele davon besaßen. Sie seien so preiswert, sagte sie. Der chinesischen Händler beeindruckte mich. Er strahlte eine seltsame Ruhe und Ausgeglichenheit aus. Ich mochte ihn.

      Die ersten Schuljahre langweilten mich. Keiner der Lehrer vermochte auch nur in Ansätzen so interessant zu erzählen wie Opa Paul. Wir Kinder lebten zwischen dem, was unsere Lehrer uns über die sozialistische Gesellschaft erzählen mussten, dem, was Opa Paul äußerte und der Realität, wie wir sie täglich in unserem Dorf sahen. Glaubwürdiger war in der Regel der mit der größeren Autorität – also alter Paul.

      Großvater war sehr angesehen im Dorf und nicht nur weil er ein stattliches Alter aufwies, sondern auch deshalb, weil er in beiden Weltkriege an die Front gezwungen wurde und beide Male desertierte, sich versteckte, bis der Spuk vorüber war. Viele Leute im Dorf wussten das.

      Niemand warf ihm vor, ein Feigling gewesen zu sein und für mich war er sowieso der Größte.

      Er vermochte es, den Bürgermeister und andere solange zu beeinflussen, bis die Borngasse, in der seine Bruchbude stand, die er von seiner Mutter erbte, in August – Bebel – Strasse umbenannt wurde.

      Opa war nicht anfällig gegen die vielen Neuerungen der Fünfziger. Der Konsumanspruch ging an ihm vorbei. Wozu brauchte er auch Fernseher, Kühlschrank, Waschmaschine oder gar Auto. All dieser Trödel würde den Menschen vom rechten Weg abbringen und seiner eigenen Meinung berauben. Die Menschen würden nur noch in Konsumkategorien denken, statt sich mit den eigentlichen Wahrheiten zu beschäftigen. Der alte Paul war und blieb eben er selbst – unverwechselbar er. Was störte es ihn, wenn er im Winter den Wehrmachtsmantel abtrug oder wenn er nach dem Verdrängen von Stalins Werken aus den Bibliotheken durch die ostdeutsche Führung dessen Bücher neben denen Bebels in seinem Bücherschrank hatte. So schnell war Paul nicht umzustimmen und Postulaten der „Gemeinschaft“ folgte er ohnehin nicht auf Zuruf. Die Mehrheit, die Dorfgemeinschaft, das Volk muss nicht immer recht haben. Und die Partei schon gar nicht. Die schrecklichen zwölf Jahre des Dritten Reiches haben dafür den Beweis erbracht. Gottgläubig war Opa nie gewesen. Er hatte als Fahnenflüchtiger in Dresden das Inferno des 13. Februar 1945 erlebt. Die sinnlosen Bombardierungen der zivilen und kulturellen Stätten Dresdens veränderten ihn. Er hatte beide Weltkriege als Soldat mit erleben müssen. СКАЧАТЬ