Название: Vom verzauberten Hexer in der Schildkröte
Автор: Carmen Sternetseder-Ghazzali
Издательство: Bookwire
Жанр: Социология
isbn: 9783738087383
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Für Clastres ist der Staat erst als Folge von Eigentum entstanden. Zum Schutz des Eigentums. So würde der Häuptling neben den Gesetzen bald schon einen Gewaltapparat schaffen, der über die Einhaltung der Gesetze wacht – und darüber, dass die von allen produzierten Waren und Lebensmittel in die Kanäle seiner Machtelite fließen.
Es birgt also erhebliche Gefahren, wenn sich politische Macht auf wenige Menschen konzentriert. Gesellschaftliche Schichtung, soziale Ungleichheit und ökonomische Ausbeutung sind die kranken Elemente aller Staaten, deren Aufrechterhaltung von einem Justiz- und Polizeiapparat überwacht wird. Um diese Übel zu vermeiden, bleiben nach Clastres viele amazonische Ethnien lieber „Staatsfeinde“ und hindern ihre Häuptlinge stetig daran, wirklich mächtig zu werden.
Man kann durchaus von heutigen Wildbeutergruppen oder von den amazonischen Ethnien auf die „Horden“ schließen, über die Hobbes in seiner Schrift Leviathan (1651) behauptet, sie haben nur geraubt, Schande zu Wasser und zu Lande gebracht und in einem Zustand des Krieges aller gegen alle gelebt.
Hobbes kannte fremde Kulturen nicht aus eigener Anschauung und konnte daher nicht wissen, dass „Horden“ einfach nur politisch anders funktionierten als der englische Staat. Daher ist das, was er von seinem Londoner Schreibtisch aus behauptet, zunächst einmal das Produkt großer Unkenntnis. Es knirscht daher schon arg im Kopf, wenn er behauptet, es gäbe bei den Wilden ohne Staat weder Ackerbau noch Schifffahrt, weder bequeme Behausungen noch Werkzeuge höherer Art, weder Länderkenntnis noch Mathematik oder Kunst. Auch keine Literatur, keine gesellschaftlichen Verbindungen, nur tausendfaches Elend, wobei das Schlimmste die ständige Furcht davor sei, ermordet zu werden. Diese stündliche Todesgefahr, so schließt Hobbes seine abstruse Schilderung, habe den Wilden ohne Staat nur die Aussicht auf ein einsames, kümmerliches, rohes und kurz dauerndes Leben geboten.1
Kann menschliche Existenz noch trostloser klingen?
Natürlich hat Hobbes auch eine Antwort parat, weshalb sich die Wilden permanent gegenseitig ermorden: Weil es keinen Führer gegeben habe, musste jeder Wilde alleine für sein Wohl sorgen und seinen Besitz verteidigen. Denn er habe noch so viel Land besäen, bepflanzen und bebauen können, immerzu sei er in Gefahr gewesen, von einem neidischen Nachbarn aus Lust auf sein Stück Land plötzlich getötet zu werden. Weil manche Wilde sogar so ruhmsüchtig und machtgierig gewesen seien, dass sie sich gerne die ganze Erde untertan gemacht hätten, sei es daher ratsam für jedermann gewesen, selbst durch Mord an den Besitz anderer zu gelangen. Nicht Fleiß und mühsame Arbeit waren die Parameter des Erfolgs, sondern Gewalt und Angriffskriege.
Um seine Argumente zu zementieren, vergleicht er seinen bösen Wilden mit einer bekannten Figur aus dem Alten Testament. Er weist im Leviathan auf den biblischen Brudermord hin. Kain erschlug Abel, glaubt Hobbes, weil er keine Justiz hatte fürchten müssen. Wenn es damals eine allgemein anerkannte Macht gegeben hätte, die eine solche Greueltat hätte rächen können, wäre der Brudermord niemals geschehen.
Dieser Abgesang auf den Jenseitsglauben und den biblischen Gott lässt seinen Lösungsvorschlag umso mehr glänzen: Als Heilmittel gegen das ständige Morden und Töten empfiehlt Hobbes den absolutistischen Staat. Hobbes war in einer Zeit ständiger Kriegsbedrohung im absolutistischen England geboren und bezeichnete sich einmal selbst als Zwillingsbruder der Angst. Absolutismus war schließlich die ihm vertraute Staatsform.
Sein Menschenbild vom gräuelsüchtigen Wilden verrät neben der Angst vor dem Zusammenbruch des absolutistischen Englands auch die Angst vor dem radikal Fremden, versinnbildlicht durch scheinbar anarchistische Wilde ohne Staat. Diese Wilden waren sein Schreckgespenst, seine Feinde. Was er über sie in den ethnografischen Berichten las, erschütterte ihn zutiefst.
Ihre bloße Existenz provozierte nicht nur sein immenses Sicherheitsbedürfnis, sie stellte auch sein komplettes Weltbild auf den Kopf, denn es schien diesen Wilden an allem zu mangeln, was zu den kulturellen Koordinaten seines eigenen Lebens gehörte. Er betrachtete sie als zerstörerische und gefährliche Elemente. Mehr noch, sie symbolisierten die Klassenfeinde der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung. (Erinnert wirklich frappierend an Sarrazins Thesen.)
Die bösen Wilden standen folglich bei Hobbes für alles, was sich dieser Ordnung widersetzte und was seine Gesellschaftsschicht daher als minderwertig und schmutzig abwehrte.
Leviathan ist keine Schrift gegen Anarchie oder ein ethnografischer Beweis, dass Wilde ohne Boss automatisch zum Wolf unter Wölfen werden würden, sondern der simple Versuch, den absolutistischen Staat zu rechtfertigen. Nur von ihm versprach sich Hobbes Schutz vor den grausamen Kriegen, die das England des 17. Jahrhunderts erschütterten. Dank seiner Sprachmächtigkeit und privilegierten sozialen Position ist es ihm gelungen, seine fiktive Denkschablone des bösen Wilden bis in unsere Zeit durchzusetzen, freilich auf Kosten der damaligen Völker aus der Neuen Welt.
Es klingt radikal, wurde aber von der damaligen und jetzigen Realgeschichte schon mehrmals bewiesen: Sinn aller pejorativen Marginalisierungen und grundlegenden Abwertung des kulturell Fremden ist seine Auslöschung. Daher ist es immer ein Alarmzeichen, wenn man andere Menschen als primitive und gefährliche Untermenschen bezeichnet, die unsere zivile Welt bedrohen würden. Sie werden dadurch zu nichts anderem als zu feindlichen Objekten unseres Vernichtungswillens, zur Beute einer Hetzjagd, die erst endet, wenn die provozierend andersartige Lebensform vom Planeten verschwunden ist.2
Sanfter klingt es zwar bei Sarrazin, wenn er über muslimische Migranten sagt: „Wer Türke oder Araber bleiben will, und dies auch für seine Kinder möchte, der ist in seinem Herkunftsland besser aufgehoben.“3 Er meint allerdings dasselbe, wenn auch auf deutschen Boden beschränkt. Seine Botschaft lautet: Eure provozierend andersartige Lebensform muss aus Deutschland verschwinden!
Islam wird gerne mit Islamismus verwechselt. Auch in der Profi-Terrorbekämpfung. Menschenverachtende, gewalttätige Gruppierungen gehören freilich bekämpft, allerdings sollte man differenzieren, wer uns nur durch seine Andersartigkeit provoziert und wer tatsächlich menschenverachtende Praktiken und Gewalttaten ausübt.
In dem von den USA praktizierten Drohnenkrieg gegen Islamisten in Pakistan observieren US-Soldaten von ihrer Station in New Mexico aus auch Zivilisten. Aus 10 000 Kilometer Entfernung studieren die Drohnenpiloten die Menschen beim Bestellen ihrer Felder, beim Wäscheaufhängen und beim Sex auf den Häuserdächern in den heißen Sommermonaten. Sobald ein vermeintlicher Feind im Fadenkreuz erscheint, markiert der Drohnenpilot am Computer die gewünschte Einschlagstelle und gibt per Mausklick den Befehl zum Raketenabschuss. Das geschieht im friedlichen New Mexico. Irgendwo in den Bergen Pakistans schlägt 16 Sekunden später eine Rakete auf freiem Feld oder in ein Gehöft ein. Traurig, wenn während der 16 Sekunden noch ein Kind durchs Fadenkreuz läuft – die Rakete kann keiner mehr aufhalten.
Auf dem Bildschirm in New Mexico erscheint ein Blitz, in Pakistan sterben nebst dem angepeilten Opfer auch Hühner und Hunde, spielende Kinder und ihre Mütter. Dass beim Drohnenkampf unschuldige Zivilisten getötet werden, gab Barack Obama im Januar 2012 zu.
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