Forschungsreisen in früheren Jahrhunderten - Band 124 in der maritimen gelben Buchreihe bei Jürgen Ruszkowski. Jürgen Ruszkowski
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СКАЧАТЬ Gefangenen, die im Jahre 1284, also vierzehn Jahre vor seiner eigenen Gefangennahme, in der Seeschlacht von Meloria den Genuesen in die Hände gefallen waren, ein Schlag, von dem sich Pisa nie wieder erholt hat. Es verlor damals die Blüte seiner jungen Mannschaft. Viele vornehme Pisanerinnen zogen in Scharen zu Fuß nach Genua, um ihre Männer oder Anverwandten wenigstens noch einmal zu sehen. „Und als sie dann an den Pforten der Gefängnisse nachforschten“, berichtet ein Zeitgenosse, „bekamen sie von den Wärtern die Antwort: Gestern sind dreißig von ihnen gestorben, heute waren es vierzig. Wir werfen sie alle ins Meer; und so geht es Tag für Tag.“In den drei Jahren nach der Rückkehr aus Asien bis zur Gefangennahme war Marco nicht daran gegangen, seine Reiseerlebnisse schriftlich aufzuzeichnen. Erst jetzt, nach diesem Schicksalsschlag, da er nicht wusste, ob er jemals lebendig dem Kerker entkommen würde, scheint ihm die Erkenntnis dafür aufgegangen zu sein, welchen Wert dieser einzigartige Schatz von Erfahrungen für die Mit- und Nachwelt haben musste. Es gelang ihm, aus dem Gefängnis einen Brief an seinen Vater in Venedig zu schicken und sich von dort seine Reisenotizen kommen zu lassen. In einem Mitgegangenen, dem literarisch gebildeten Rusticiano aus Pisa, fand er einen treuen Gehilfen, der nach seinem Diktat das umfangreiche Buch seiner Reiseerlebnisse niederschrieb.So ist das Werk entstanden, dem Marco Polo seinen Ruhm durch die Jahrhunderte verdankt. Denn es besteht durchaus Grund zu der Annahme, dass nicht nur alle seine Beobachtungen und Erkenntnisse im Einzelnen ohne diese Niederschrift im Gefängnis zu Genua niemals der Nachwelt erhalten worden wären, sondern überhaupt die Tatsache seiner Reisen, ja sogar seiner Existenz bis auf wenige ohne Zusammenhang mit diesem Buch nichts sagende Dokumente in einigen italienischen und chinesischen Archiven uns kaum überliefert worden wäre.Eine Wendung seines Schicksals konnte Marco jetzt nur noch erhoffen von der Beendigung des Kriegszustandes zwischen Genua und Venedig. Papst Bonifatius, der früher zwischen den beiden Republiken vermittelt hatte, scheint diesmal den Versuch für aussichtslos gehalten zu haben. Aber andere italienische Staaten, die an der Wiederherstellung des Friedens interessiert waren, schalteten sich ein, und schließlich trafen sich auf Veranlassung von Mailand Gesandte der beiden streitenden Parteien in dieser Stadt. Sie bereiteten einen Friedensvertrag vor, der im Mai 1299 unterzeichnet wurde und beide Seiten zur Entlassung der Gefangenen verpflichtete. Ende August dieses Jahres, genau vier Jahre nach seiner Gefangennahme, wurde Marco Polo mit seinen Schicksalsgefährten, soweit sie die Haft lebend überstanden hatten, aus dem Gefängnis entlassen und kehrte sogleich nach Venedig zurück.Über Marcos weitere Schicksale sind uns nur ganz wenige Nachrichten erhalten. Ob er bei der Rückkehr aus der Gefangenschaft seinen Vater noch am Leben angetroffen hat, ist ungewiss, doch steht fest, dass Nicolo Polo im August 1300 bereits gestorben war. Er hatte unmittelbar nach Marcos Gefangennahme noch einmal geheiratet, da er befürchtete, dass sein ganzer so mühsam erworbener Reichtum nun vielleicht keinem leiblichen Erben zufallen würde. Der gewünschte Erfolg blieb trotz seines Alters nicht aus: Im Verlaufe der vier Jahre, die Marco im Kerker saß, wurde Nicolo Polo Vater von drei weiteren Söhnen.Erst aus dem Jahre 1324, als Marco schon ein schwerkranker Mann war, ist uns wieder ein Dokument von ihm erhalten: sein Testament. Aus ihm erfahren wir, dass er bald nach seiner Rückkehr aus Genua geheiratet hat und Vater von drei Töchtern mit Namen Fantina, Bellela und Moreta wurde, von denen die beiden ersten im Jahre 1324 schon verheiratet waren. Bald danach starb er und wurde in der Kirche San Lorenzo beigesetzt. – Der Dominikaner Jacopo de Aqui, ein Zeitgenosse Marcos, berichtet in seiner Chronik: Als Marco Polo auf dem Sterbebett von seinen Freunden ermahnt wurde, die Teile seines Reisewerkes zu widerrufen, die unglaubwürdig seien, habe er diesen Rat unwillig zurückgewiesen und erklärt, dass er an keiner Stelle übertrieben, ja nicht einmal die Hälfte der von ihm wirklich beobachteten seltsamen Dinge erzählt habe.* * *Der Weltreisende und sein BuchDer Weltreisende und sein BuchMarco Polos erster Biograph, der Italiener Ramusio (geboren 1485 in Treviso, gestorben 1557), war ein Kind, als Columbus seine erste denkwürdige Fahrt nach Westindien ausführte; er lebte lange genug, um die Auswirkung dieses Ereignisses durch zwei Menschenalter verfolgen zu können. Es lag darum für ihn nahe, die Reisen der Polos mit dem Unternehmen des Columbus zu vergleichen. In der Vorrede zu seiner Ausgabe von Marcos Buch, die er in Venedig im Jahre 1553 schrieb, führt er aus: „Oft habe ich die Landreise unserer Venezianer mit der Seefahrt des genannten Signor Don Christopher verglichen und mich dabei gefragt, welche von beiden die bedeutendere sei. Wenn mich nun nicht ein patriotisches Vorurteil parteiisch macht, so glaube ich doch gute Gründe dafür zu haben, die Landreise über die Seefahrt zu stellen. Man bedenke nur, was für ein Mut dazu gehörte, ein so schwieriges Unternehmen zu beginnen und erfolgreich durchzuführen. Man denke an die unvorstellbare Länge des Reiseweges mit allen seinen Mühsalen, wobei es oft nötig war, die Nahrung für Menschen und Tiere nicht nur für Tage, sondern für mehrere Monate mitzuführen. Columbus dagegen hatte auf seiner Seereise den nötigen Proviant stets zur Hand, und auf einer Fahrt von nur dreißig bis vierzig Tagen ließ er sich vom Wind zum Ziel seiner Wünsche führen, während die Venezianer ein ganzes Jahr brauchten, um allein die großen Wüsten und gewaltigen Ströme zu durchqueren. Dass der Weg nach Cathay so viel schwieriger, weiter und gefährlicher war als die Fahrt in die Neue Welt, geht auch daraus hervor, dass kein Europäer es bisher gewagt hat, die Reise zu wiederholen, die von den Polos zweimal durchgeführt wurde. Dagegen haben schon im ersten Jahr, das der Entdeckung Westindiens folgte, viele Schiffe die Fahrt dorthin unternommen, und bis zum heutigen Tage finden sie zahllose Nachfolger. Tatsächlich sind diese Gebiete jetzt so gut bekannt und dem Handel erschlossen, dass selbst der Seeverkehr zwischen Italien, Spanien und England nicht größer ist.“Zweifellos wird dieser Vergleich, der nur die Schwierigkeiten der Reisetechnik berücksichtigt, der Tat des Columbus nicht gerecht. Er lässt völlig außeracht das Genie, mit dem der große Genuese das Unternehmen seines Lebens plante und durchführte; er sieht nicht die Energie, den Fanatismus und die Klugheit, mit denen Columbus alle Schwierigkeiten aus dem Wege räumte. – Marco Polos Ruhm beruht weniger auf seinem Charakter oder besonderen Fähigkeiten als vielmehr der Romantik seiner persönlichen Schicksale, der geographischen wie menschlichen Weite seiner Erfahrungen, besonders aber auf der Tatsache, dass er über alles das ein faszinierendes Buch geschrieben hat, ein Buch zudem, das der Nachwelt eine ganze Reihe von Rätseln aufgegeben hat, die teils erst nach Jahrhunderten gelöst wurden, zum Teil aber auch heute noch nicht ganz geklärt sind.Das erste dieser Rätsel betrifft die Sprache, in der das Buch von Marco Polo ursprünglich niedergeschrieben wurde. Das Werk ist uns in einer großen Anzahl von Manuskripten erhalten. Der Engländer Henry Yule, der die Polo-Forschung mehr als andere gefördert hat und dem auch unsere Darstellung in vielen Einzelheiten zu Dank verpflichtet ist, konnte achtundsiebzig Manuskripte nachweisen, davon einundvierzig in Lateinisch, einundzwanzig in Italienisch, zehn in Französisch und vier in Deutsch. Ramusio nahm an, dass die lateinische Version die ursprüngliche sei. Später hielt man eines der italienischen Manuskripte in venezianischem Dialekt für den Originaltext. Erst im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts, als man mit den inzwischen entwickelten Methoden philologischer Textkritik der Frage nachging, stellte sich heraus, dass beide Auffassungen kaum zutreffen können. In sorgfältiger Kleinarbeit wurden vier wesentlich von einander verschiedene Texttypen ermittelt. Dabei zeigte es sich, dass die Manuskripte in einer der genannten Sprache keineswegs alle einem bestimmten Texttyp zugeordnet werden können. Vielmehr ergab sich, dass offenbar schon sehr frühzeitig ein wildes Hin- und Herübersetzen stattfand. So hatte Andreas Müller aus Greifenhagen, der im Jahre 1671 eine Ausgabe des Buches von Marco Polo veröffentlichte, das Pech, an ein Manuskript zu geraten, das bereits eine Übersetzung aus fünfter Hand war. Grafik 739Auch die französischen Ausgaben, die um die Mitte des 16. Jahrhunderts erschienen, sind eine Rückübersetzung um mehrere Ecken: Französisch – Italienisch – Pipinos Latein – Portugiesisch? – Grynacus' Latein – Französisch! Alle diese Forschungen, die wir im Einzelnen nicht verfolgen können, führten zu dem höchst überraschenden Ergebnis, dass offensichtlich eines der Manuskripte in altfranzösischer Sprache das Original ist, das Marco Polo in Genua im Gefängnis diktiert hat, oder dass es doch von allen existierenden Manuskripten der Urfassung am nächsten steht. Es ist das französische Manuskript, das die Geographische Gesellschaft zu Paris im Jahre 1824 in einer sorgsamen Ausgabe veröffentlichte und das seitdem als der „Geographische Text“ bezeichnet wird.Dies verblüffende Ergebnis warf manche neue Fragen auf. Ist es denkbar, dass der Venezianer Marco Polo sich im Gefängnis dem Toskaner Rusticiano in seiner eigenen Muttersprache nicht verständlich СКАЧАТЬ