Morgenrosa. Christian Friedrich Schultze
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Название: Morgenrosa

Автор: Christian Friedrich Schultze

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия: Trilogie

isbn: 9783742795953

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      Wauer war schlagartig klar, dass er in einer Zwickmühle saß. Sagte er nein, wüssten sie, was sie zu tun hätten. Sagte er ja, war er ihnen ebenfalls ausgeliefert. Er überlegte fieberhaft. Dann sagte er: „Ja, warum nicht, warum sollten wir uns nicht mal unterhalten. Kommt ja darauf an, was sie von mir wollen und was ich machen muss. Ich werde mich ja wohl nicht gerade im Nahkampf ausbilden lassen müssen.“

      „OK, ich arrangiere das. Unser Kontaktmann wird mal abends hierher kommen. Ich sag dir Bescheid.“

      Es war schon merkwürdig, dass selbst der hundertprozentige Genosse Uwe Singer offensichtlich gewisse Schwierigkeiten hatte, auf diesem Terrain zum operieren. Als Kaderleiter hatte er ständigen Kontakt zu den Genossen von der inneren Staatssicherheit zu halten. Er wusste, dass bei der Stasi eine zweite Akte über die mittleren und höheren Kader geführt wurde. Und trotzdem war es keine Routine für ihn, den Mittelsmann herzugeben.

      Wauer musste eine Entscheidung treffen. Das war ihm klar. Beunruhigt überlegte er, wie er aus dieser Klemme herauskommen könnte. Denn so naiv war er lange nicht mehr, dass ihm nicht bewusst war, wenn er nur den kleinen Finger böte, dass sie den ganzen Kerl nehmen würden. Und das wiederum würde bedeuten, dass er sein ganzes Umfeld für den Rest seines Lebens würde belügen und betrügen müssen. Eigentlich wusste er bereits heute, dass es das nicht wert war. Sein quälender Bewusstseinswandel bis zum Tage der h-moll-Messe in Budapest konnte doch nicht umsonst gewesen sein!

      Die folgenden Arbeitstage vergingen aber, als wäre nichts geschehen. Beim nächsten Treffen zum so genannten Parteilehrjahr war das Thema „Martin Luther, Reformator, und die Lehren für die sozialistische Revolution“ dran. Das war ein scharfer Stoff!

      Und es beschäftigte nicht nur die Oberen und die Kirche. Im kommenden Jahr fand das „Lutherjahr“ in ganz Deutschland, vor allem aber auch in der DDR statt, weil fast alle Lutherstätten im Osten Deutschlands lagen. Eisenach, die Wartburg, Wittenberg und Leipzig, alles war hier. Diesmal hatte der Westen bis auf Worms nicht viel zu bieten. Und bei aller ideologischen Indoktriniertheit der Partei- und Staatsführung – es war eben auch ein gutes Devisengeschäft zu erwarten. Da musste man schon einmal ein paar Kompromisse eingehen! Es mutete überaus merkwürdig an, wenn man Honecker und Genossen mit den Kirchenführern aus Ost und West über die Abläufe des Jahres 1983 verhandeln sah. Einmal saßen sie sogar in der „dicken Marie“4 zu Greifswald zusammen auf den vorderen Kirchenbänken…

      Martin Wauer, dem in dieser Zeit immer bewusster wurde, dass ihm sein streng lutheranischer Vater den Vornamen des Augustinermönchs mit Bedacht gegeben hatte, wollte nun mehr über diesen mittelalterlichen Mönch wissen. Ihm genügte das fünfteilige Filmwerk, das das Fernsehen der DDR mit Ullrich Thein in der Hauptrolle ausgestrahlt hatte, als Erklärungsmuster nicht. Er glaubte, dass die Verantwortlichen für diese Produktion wenig Spielraum für die Darstellung des wahren Lebens des Thüringers gehabt hatten. Dies stimmte zwar, wie es sich herausstellte, so nicht. Aber Wauer blieb misstrauisch. Er beschaffte sich einschlägige Literatur und vertraute lieber auf die von ihm selbst recherchierten Quellen. Wie stets in solcher Situation, half ihm dabei Helga.

      Nur der Teufel wusste, wo sie immer die passende Westliteratur herbekam. Aber auch der glaubte Wauer mittlerweile nicht mehr alles. Die Broschüren enthielten allerdings einige ins Neudeutsche übertragene problematische Luthertexte. Las die heute noch irgend jemand? Wauer war beeindruckt, was er da heraus bekam.

      Eigentlich hatte Luther dasselbe Problem wie er. Er verzweifelte an der Doppelbödigkeit der Moral seiner Kirche, die öffentlich Wasser predigte, die Bergpredigt des Gottessohnes Christus über alles hob und für sich selbst und ihr bevorzugtes Leben eine Unterdrückungshierarchie aufgebaut hatte, die ihresgleichen suchte. Und weil Luther an Gottes und Jesus Christus Existenz glaubte, setzte er die 97 Thesen5 über die Falschheit des Ablasshandels in die Welt, just in dem Moment, als die Erfindung des Buchdrucks eine beachtliche Vervielfältigung seiner Schriften ermöglichte. Und damit begann eine Entwicklung, die er selber nicht vorhergesehen hatte.

      Mutig war der Mann gewesen! Er hatte nicht widerrufen, wie viele andere vor ihm, die ebenfalls durchblickten. Und er hatte, getreu seinen Überzeugungen von der Sinnlosigkeit des Zölibates, eine lebenstüchtige adelige Nonne geheiratet und mit ihr ein halbes Dutzend Kinder gezeugt. Aber wie passten zu diesen Taten seine Schriften zu den Juden und zu den aufständischen Bauern?

      Hatte er Recht darin gehabt oder war er, wie die meisten Menschen, den Weg von links unten in der Jugend nach rechts oben im Alter gegangen? Mit welcher räudigen Sprache dieser Theologieprofessor über Juden und Bauernaufstände herzog, war schon ebenso außerordentlich, wie seine Sprachmächtigkeit bei seinen Bibelübersetzungen, mit denen er den Deutschen endlich eine einigermaßen einheitliche Schriftsprache gegeben hatte.

      Konnte Martin Luther für Martin Wauer ein Vorbild sein? In einer Hinsicht wohl schon: Er fiel niemals um! Er war nur sich selbst treu, mitsamt seiner unbegreiflichen Frömmigkeit. Wauer wollte es sich merken.

      In der Parteilehrjahrsdiskussion war Wauer der Bestvorbereitete. Uwe Singer und Fritz Rauch waren dennoch nicht dankbar für Wauers Beiträge. Sie schwammen im faktischen Nichtwissen. Den übrigen Genossen, vielleicht aber sogar ihnen als Parteileitung des Betriebes, wurde der Aktualitätsbezug des Lutherschen Lebens ziemlich offenbar. Fing hier die Zukunft an?

      Galileoleo Galilei

      1.

      Am Montag nach dem ersten Wochenende des Wiedersehens mit seiner schwangeren Geliebten lag ein Brief aus Frankfurt im Briefkasten. Barbara hatte nicht angerufen, sondern stattdessen eine kurze Nachricht geschrieben, dass Lothar am 28. August für das Wochenende nach Berlin kommen könne. Der Zug käme 10:01 Uhr in Karlshorst an und führe am Sonntag 16:17 Uhr von da nach Frankfurt an die Oder zurück. Sie bat um Pünktlichkeit bei Abholung und Rückfahrt. Und sie schlug vor, dass die Reiserei, wie sie es nannte, monatlich abgewechselt werden sollte und er möge sich doch bald über ihre unterbreiteten Vorschläge äußern. Wauer schrieb zurück, dass alles so in Ordnung sei und er den Sohn wie vorgeschlagen am Bahnhof abholen werde.

      Es war wieder wärmer geworden in Deutschlands Osten. Wauer war rechtzeitig mit der S-Bahn vom Warschauer Platz losgefahren, die wenigen Stationen bis Karlshorst, wo sein Sohn an diesem Sonnabend für lächerliche eineinhalb Tage zum ersten Vater-Umgangs-Wochenende seit bald drei Jahren eintreffen sollte. Karlshorst besaß gerade mal zwei Fernbahnsteige, über die aber der Eisenbahnverkehr in die östliche Richtung Fürstenwalde-Frankfurt-Oder und südlich um die Frontstadt Berlin herum nach Potsdam und Brandenburg abgewickelt wurde.

      An diesem sonnigen, aber noch kühlen, Sonnabend-Vormittag herrschte wie stets reges Treiben. Wauer stellte sich oben auf die Übergangsbrücke vom verwahrlosten Fernbahnsteig zur S-Bahn und richtete seinen Blick nach Osten. Er konnte die gerade Bahnstrecke mindestens zwei Kilometer ostwärts überblicken und so den Zug aus Frankfurt rechtzeitig erspähen. Ab da war noch genügend Zeit, um zum Bahnsteig hinunter zu laufen und das Kind in Empfang zu nehmen. Vor etwas mehr als dreißig Jahren war sein Vater über die neue Grenzstadt Frankfurt-Oder von seiner Gefangenschaft aus Russlands Tiefen kommend nach Deutschland eingereist. Heute kam nach vielen Monaten Besuchspause sein Sohn.

      Der Zug war wider Erwarten pünktlich. Lothar stieg nicht allein aus. Er war in Begleitung eines etwas größeren Jungen. Diesen stellte er, nachdem er eine einigermaßen liebevolle Begrüßung seines Vaters hingelegt hatte, als seinen besten Freund Jakob vor. Wauer war für Sekunden überrascht und dann doch erleichtert. So würde sich das Treffen vielleicht weniger kompliziert gestalten lassen, dachte er. Barbara machte es ihm also nicht mehr unnötig schwer.

      „Wie lange wart ihr nicht in Berlin?“, fragte er die zwei.

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