Название: Die wirkliche Lage in Rußland
Автор: Leo Trotzki
Издательство: Bookwire
Жанр: Социология
isbn: 9783966512121
isbn:
Arbeitslosigkeit
Die langsame Entwicklung der Industrie gibt nirgendwo ein so ungesundes Bild wie in der Arbeitslosigkeit, die die festesten Reihen des Industrieproletariats angegriffen hat. Die amtliche Zahl der eingetragenen Arbeitslosen war im April 1927 1 478 000. Die wirkliche Zahl der Arbeitslosen war etwa 2 Millionen. Die Zahl der Arbeitslosen wächst unvergleichlich schneller als die Gesamtzahl der beschäftigten Arbeiter. Nach dem Fünfjahresplan der Kommission für Staatsunternehmungen werden unsere Industrien die ganzen fünf Jahre hindurch etwas über 400 000 ständig beschäftigte Arbeiter benötigen. Dies bedeutet bei dem ständigen Zustrom von Arbeitern aus dem Lande, daß Ende 1931 die Zahl der Arbeitslosen auf nicht weniger als 3 Millionen Männer und Frauen gestiegen sein wird. Die Folge eines solchen Zustandes wird eine wachsende Zahl von obdachlosen Kindern, von Bettlern und Prostituierten sein. Die geringe Entschädigung, die man den Arbeitslosen bezahlt, erregt berechtigten Unwillen. Sie erhalten im Durchschnitt 11,9 Rubel, das heißt 5 Vorkriegsrubel. Die Gewerkschaften zahlen eine Arbeitslosenrente von durchschnittlich 6,5 bis 7 Rubel. Diese Renten erhalten aber nur etwa 20 Prozent von arbeitslosen Gewerkschaftsmitgliedern.
Das Arbeitsgesetzbuch ist durch viele erklärende Zusätze zwar stark vergrößert, aber auch verschlechtert worden. Manche Fürsorgemaßnahmen sind durch solche Zusätze und Auslegungen wieder aufgehoben worden. Besonders ist der gesetzliche Schutz der vorübergehend und saisonweise beschäftigten Arbeiter niedergerissen worden.
Der jüngste Feldzug des staatlichen Handels war durch eine fast allgemeine Lockerung der gesetzlichen Beschränkungen und ein Herabdrücken der Lebenshaltung und der Löhne charakterisiert. Indem man der wirtschaftlichen Leitung die Rechte einer Zwangsentscheidung gab, hob man den gemeinsamen Vertrag einfach auf, indem man ihn aus einer beiderseitigen Übereinkunft in eine behördliche Anordnung verwandelte. Die Unfallentschädigungen der Arbeiter durch die Industrie sind völlig unzureichend. Nach den Angaben des Volkskommissariats für Arbeit gab es 1925–1926 für jedes Tausend von Arbeitern 97,6 Unfälle, die Arbeitsunfähigkeit herbeiführten. Jeder zehnte Arbeiter erleidet jährlich einen Unfall.
Die vergangenen Jahre waren charakterisiert durch eine scharfe Zunahme von Arbeitskonflikten, die meist durch Zwangsmaßregeln, statt durch Einigung beseitigt wurden.
Die Leitung der Betriebe hat sich verschlechtert. Die behördlichen Organe streben immer mehr danach, ihre unbegrenzte Herrschaft zur Geltung zu bringen. Das Einstellen und Entlassen von Arbeitern befindet sich völlig und allein in den Händen der Behörden. Eine vorrevolutionäre Art von Verhältnis zwischen Meister und Arbeiter ist gar nicht selten.
Die Betriebsbesprechungen haben allmählich jede Bedeutung verloren. Die Mehrzahl der von den Arbeitern angenommenen praktischen Vorschläge wird niemals ausgeführt. Bei vielen Arbeitern wird auch eine Abneigung gegen die Betriebsbesprechungen dadurch erzeugt, daß die von ihnen durchgesetzten Verbesserungen oft nur zu einer Verringerung der Arbeiterzahl führt. Infolge davon werden die Betriebsversammlungen nur spärlich besucht.
Auf kulturellem Gebiete ist es notwendig, das Schulproblem besonders zu betonen. Es wird dem Arbeiter immer schwerer, seinen Kindern selbst nur eine elementare Erziehung zu geben, ganz abgesehen von einer Ausbildung ihrer besonderen Fähigkeiten. In fast allen Bezirken mit Arbeiterbevölkerung fehlt es an Schulen, und die Zuschüsse, die in den besseren Schulen verlangt werden, machen es den Eltern unmöglich, so für die Kinder zu sorgen, wie sie es gerne möchten. Der Mangel an Schulen und die unzureichende Versorgung der Kindergärten treibt einen großen Teil der Arbeiterkinder auf die Straßen.
Die Gewerkschaften und die Arbeiter
Der Streit um die Arbeitsbedingungen in den Betrieben, den eine Resolution des elften Parteikongresses erwähnt, ist in den letzten Jahren beträchtlich angewachsen. Trotzdem hat die ganze neuerliche Parteipolitik in bezug auf die Gewerkschaftsbewegung im Verein mit den Ränken der Gewerkschaftsführer dahin geführt, daß der vierzehnte Kongreß bekennt: »Die Gewerkschaften konnten oft ihre Aufgaben nicht erfüllen, da sie ihre erste und wichtigste Aufgabe in den Hintergrund schoben – die Verteidigung der wirtschaftlichen Interessen der von ihnen geleiteten Massen und die möglichste Hebung ihrer materiellen und kulturellen Lage.« Die Verhältnisse wurden nach dem vierzehnten Kongreß nicht besser, sondern schlechter. Die Bureaukratisierung der Gewerkschaften ging weiter vorwärts.
Im Stab der gewählten Vollziehungsbeamten der Gewerkschaften ist der Prozentsatz der Betriebsarbeiter und der nicht zur Partei gehörigen Arbeiter außerordentlich gering (12–13 Prozent). Die ungeheure Mehrzahl der Delegierten auf den Gewerkschaftskonferenzen sind Leute ohne jede Beziehung zur Industrie. Niemals vorher standen die Gewerkschaften und die arbeitenden Massen so weit entfernt von der Leitung der staatlichen Industrie wie jetzt. Die Selbstbetätigung der in den Gewerkschaften organisierten Arbeitermassen ist ersetzt worden durch Verhandlungen zwischen den lokalen Sekretären, den Betriebsdirektoren und den Vorsitzenden der Fabrik- und Betriebsausschüsse (dem »Dreieck«). Die Haltung der Arbeiter den Fabrik- und Betriebsausschüssen gegenüber zeigt Mißtrauen. Die Teilnahme an den allgemeinen Versammlungen ist gering.
Die Unzufriedenheit der Arbeiter, die in den Gewerkschaften keinen Ausdruck findet, breitet sich unterirdisch aus. »Man darf nicht zu sehr hervortreten. Wenn du dein bißchen Brot behalten willst, dann rede nicht so viel!« Solche Worte sind sehr häufig, und man versteht, warum die Arbeiter es vorziehen, ihre Lage durch Tätigkeit außerhalb der Gewerkschaftsorganisation zu verbessern. Dies allein verlangt gebieterisch einen völligen Wechsel in der augenblicklichen Gewerkschaftspolitik.
Die wichtigsten praktischen Vorschläge
A. Auf dem Gebiete der materiellen Bedingungen
1 Schneidet jede Neigung zu einer Verlängerung des Achtstundentages mit der Wurzel ab. Gestattet Überarbeit nur, wenn sie absolut notwendig ist. Erlaubt keinen Mißbrauch der Beschäftigung von Aushilfsarbeitern, keine Behandlung von dauernd Beschäftigten als Saisonarbeiter. Schafft jede neuerdings eingeführte Verlängerung des Arbeitstages in gesundheitsschädlichen Betrieben wieder ab.
2 Das allerdringlichste Problem ist die Erhöhung der Löhne wenigstens in dem Maße, wie sich die Produktivität der Arbeit gehoben hat. In der Zukunft sollte mit jedem Anwachsen des Ertrags der Arbeit grundsätzlich eine Erhöhung der realen Löhne verbunden sein. Notwendig ist auch der Versuch einer Angleichung der Löhne der verschiedenen Arbeitergruppen, und zwar durch systematische Aufbesserung der niedriger bezahlten Gruppen; in keinem Fall aber durch Verschlechterung der höher bezahlten.
3 Wir müssen jeden bureaukratischen Mißbrauch der Rationalisierungsmaßnahmen beseitigen. Diese dürften nur in inniger Verbindung mit einer entsprechenden Entwicklung der Industrie stattfinden, mit einer planvollen Verteilung der Arbeitsmacht und einem Kampf gegen die Vergeudung der produktiven Kräfte der arbeitenden Klasse – besonders der der gelernten Arbeiter.
4 Um die übeln Wirkungen der Arbeitslosigkeit zu lindern, müssen die Arbeitslosenrenten dem durchschnittlichen Lohn in einer bestimmten Gegend angepaßt werden. Die Rentenperiode СКАЧАТЬ