Handbuch zu Marcel Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«. Bernd-Jürgen Fischer
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СКАЧАТЬ selbst übersetzt; wo ich übernehmen konnte, habe ich das getan und in den Anmerkungen vermerkt. Bei Zitaten aus einem klassischen griechischen oder lateinischen Text kommt noch hinzu, dass er bereits auf französischer Seite in mehreren verschiedenen Übersetzungen vorliegt, man aber nicht immer weiß, welche Proust benutzt oder gekannt hat, und dann im Deutschen ebenfalls mehrere Übersetzungen mit ganz verschiedenen Auffassungen der Übersetzer vorliegen (man denke nur an Ovids Metamorphosen). Hier habe ich mich im allgemeinen für die Übersetzung entschieden, die dem »kanonischen« Textverständnis am nächsten kommt, wie es bei Roscher40 (für die Auffassung zu Prousts Zeiten) und bei Pauly41 (für die moderne Sicht) umrissen wird.

      Generell werfen intertextuelle Anspielungen die Frage auf, wie viel des anderen Textes denn »mitgemeint« ist und damit, wie eng man am Wortlaut bleiben oder wie weit man sich von ihm entfernen muss, um die Intention des Autors einzufangen. Wenn Proust etwa in WZ, S. 229, vom »enfarinement« bestimmter Parteien nach dem Krieg schreibt (›Einmehlung‹, im Text als »in Mehl gewälzt« übersetzt), wie es die Katze in La Fontaines Fabel Die Katze und die alte Ratte (1668) zum Zweck der Camouflage macht, so würden wir im Deutschen im allgemeinen wohl eher sagen, dass die fraglichen Parteien »Kreide gefressen« hätten, wie der nach Geißen lüsternde Wolf in Grimms Märchen. Ob man aber mit einer Übersetzung zugleich eine so weitgehende Transformation auch des kulturellen Bezugsrahmens vornehmen sollte, erscheint mir höchst zweifelhaft, besonders insofern, als damit ja meist noch weitere Verschiebungen verbunden sind, in diesem Beispiel etwa der Charakterisierung der in Rede stehenden Parteigruppierung als einer »Katze« hin zu einem »Wolf«, zwei Konzepte, die mit ganz verschiedenen Assoziationsfeldern ausgestattet sind, wie ein Blick in Lexika deutscher oder französischer Redewendungen unmittelbar vor Augen führt. Im vorliegenden Fall legt allerdings der für den Proust-Leser unsichtbare Text La Fontaines eine bestimmte Entscheidung äußerst nahe: Die Ratte der Fabel bezeichnet die getarnte Katze als »bloc enfariné«, als ›mehlbepuderten Block/Klumpen‹, und die politische Gruppierung, um die es Proust geht, ist der »bloc national«, der ›nationale Block‹.

      Ein eher persönliches Problem des Übersetzens, das sich wohl kaum umgehen lässt, liegt in der Tatsache, dass der Übersetzer im allgemeinen das Werk, das er übersetzt, sehr viel besser kennt als jeder Erstleser und er sich deshalb gelegentlich überlegen muss, ob er sich für eine Lösung entscheiden will, die von vielen vermutlich nicht nachvollzogen werden kann, da ihnen die nötige Vertrautheit mit dem Text fehlt, oder sich sicherheitshalber doch lieber mit einer weniger markanten, konventionellen Lösung begnügen sollte, die keine Fragen aufwirft. Wenn sich etwa gleich zu Beginn von WS der Erzähler »völlig zerschlagen« fühlt von der Last der »taille« einer erträumten Eva, so liegt es natürlich nahe, die Übersetzung »Hüfte« zu wählen, die sich schließlich in jedem Wörterbuch findet. Doch der Kenner des Textes hat spätestens nach seiner dritten Lektüre ziemlich unweigerlich den Verdacht entwickelt, dass auch der Erzähler (und nicht nur der Autor) die Sache mit der Eva biologisch nicht so genau nimmt – so ist zum Beispiel seine Eva »aus einer falschen Lage meines Schenkels entsprungen«: aber war das denn nicht Dionysos, der aus dem Schenkel Zeus’ geboren wurde? Hier bietet einem dann ein Wort wie »Lende«, dessen Anwendungsbereich ja keineswegs auf Männer beschränkt ist (vgl. etwa Luthers »Lob der tüchtigen Hausfrau« in den Sprüchen Salomonis oder Goethes »Wanderer und Pächterin«), das aber dank Odysseus’ notorischer »Kraft der Lenden« eine gewisse Konnotation von Maskulinität gewonnen hat, eine der seltenen Gelegenheiten, durch eine minimale Akzentverschiebung dem verständigen Leser einen Wink zu geben, der ihm schon vor der soundsovielten Lektüre des Textes eine Ahnung von der eigentlichen Lage der Dinge eröffnen kann (WS, S. 11).

      Grundsätzlich habe ich mich bemüht, keine Eingriffe am Text vorzunehmen, da ich es nicht für die Aufgabe des Übersetzers ansehe, Texte zu erklären oder gar zu verbessern: Wo Satzteile fehlen wie in WG, S. 481, wo Metaphern unverständlich sind wie die von Tante Léonies Stirnwirbeln in WS, S. 77, so wird der deutsche Leser damit wohl ebenso zurechtkommen müssen wie der französische. Anders sieht es aus, wenn eine im Französischen perfekt verständliche Passage durch eine Eins-zu-eins-Übersetzung unverständlich würde, wie es bei den meisten Kalauern Cottards der Fall ist (z. B. in WS, S. 359, die Doppelbedeutung von »blague« als ›Witz‹ und ›Beutel‹), bei den Sprachschnitzern des Hoteldirektors (z. B. in SG, S. 232, die Verwechslung der fast gleichlautenden »sole«, ›Seezunge‹, und »saule«, ›Weide‹) oder bei dem verlotterten Französisch des Liftboys in SG, S. 270, dessen Widerwille gegen die im Französischen grammatisch korrekte doppelte Verneinung im Deutschen nicht reproduzierbar ist. In solchen Fällen habe ich so vorsichtig wie möglich den Zusammenhang angepasst, um die Textlogik zu retten; auch diese Fälle sind jeweils in den Anmerkungen identifiziert und erläutert.

      Zum Abschluss dieses Abschnitts sei noch auf die Problematik des texthistorischen Kontextes eingegangen, die sich bei der Neuübersetzung eines Textes zwangsläufig einstellt – denn dass schon eine oder mehrere ältere Übersetzungen existieren, lässt sich natürlich nicht ignorieren. Damit tritt dann die Versuchung auf, gegen die alten Übersetzungen anzuarbeiten. Schon der erste Satz der Recherche wirft ein helles Licht auf dieses Problem. Schottlaender etwa ersetzt das Perfekt der Vorlage durch ein Präteritum und übersetzt fragwürdig, aber sehr prägnant, »ging ich schlafen« statt »bin ich schlafen gegangen«; ein T-Shirt, das ich bei Ebay erworben habe, propagiert nicht Rechel-Mertens’ »schlafen gegangen«, sondern »zu Bett gegangen«; bei Kleeberg geht der Erzähler »zu früher Stunde« schlafen, und nicht einfach »früh«; hier könnte man dann mit einer Umstellung der »Zeit« anschließen und »Lange … frühzeitig« statt »Lange Zeit … früh« erwägen; schließlich wäre noch »sich zu Bett begeben« oder »sich schlafen legen« zu bedenken. Das ergibt 48 Möglichkeiten, von denen sich allerdings die meisten schon auf den ersten Blick als unbrauchbar erweisen. Die theoretische Möglichkeit, »longtemps« einfach nur als »lange« zu übersetzen, wie das Wörterbuch es vorschlägt, und damit auch die Zehnsilbigkeit des Originals zu erhalten, die eine lange epische Tradition hat, verbietet sich hier, da zum einen das »temps« in »longtemps« offenkundig auf den Kernbegriff des Titels rekurriert und es zum anderen mit dem »dans le temps« am Textende – 4251 Seiten später – eine Klammer bildet. Das eigentliche Problem mit den schließlich verbleibenden Kandidaten – »lange Zeit ging ich abends früh zu Bett«, das die Zehnsilbigkeit des Originals bewahrt, allerdings nicht das Tempus; »lange Zeit habe ich mich früh schlafen gelegt«, das die Reflexivität des »se coucher« bewahrt, aber umständlich klingt; »lange Zeit bin ich früh zu Bett gegangen«, um das deutsche »schlafen« für das französische »dormir« zu reservieren, das aber ein wenig nach Schlafsaal klingt – ist jedoch: Wird nicht jeder von ihnen das unangenehme Odeur mit sich tragen, nur als Konkurrent zur tradierten Fassung ins Rennen geschickt worden zu sein? Wie immer man sich da entscheiden mag – ich habe dann schließlich der Tradition meine Reverenz erwiesen –: Es bleibt das noch unangenehmere Gefühl, sich nicht wirklich frei entschieden zu haben.

      Zu den Fehlern, die der aufmerksame Leser hier und dort finden mag und die bei der Erstauflage eines Werkes von diesem Umfang (1,1 Millionen Wörter) und Anspruch unvermeidlich auftreten, bitte ich um Vergebung, doch lassen Sie mich eine Bemerkung Prousts in einem Brief an Constantin de Brancovan vom Januar 1903 (Corr. III, S. 221) zu seiner eigenen Ruskin-Übersetzung zitieren: »Wenn es Fehler in meiner Übersetzung gibt, dann in den klaren und einfachen Partien, denn die unklaren, schwierigen sind über Jahre hinweg begrübelt, umgearbeitet, ergründet worden.«

      L’infini, raisonneur, dit à Kant: entends-tu?

      L’impératif finit à ce turlututu

      Das Unendliche, der Widerspruchsgeist, spricht zu Kant: Hörst du gut zu?

      Der Imperativ endet bei diesem Turlututu

      1926 Rudolf Schottlaender (Übers.): Auf den Spuren der verlorenen Zeit. Tl. 1: Der Weg zu Swann. 2 Bde. Berlin: Verlag Die Schmiede, 1926.

      1926 СКАЧАТЬ