Название: Damit Vertrauen im Sprechzimmer gelingt
Автор: Jan Stöhlmacher
Издательство: Bookwire
Жанр: Математика
isbn: 9783868676037
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Aber was bedeutet ernst genommen zu werden nun eigentlich? Würden Sie sich durch die gleichen Gesten und Worte wertgeschätzt fühlen wie ich? Vielleicht denken Sie jetzt, wie gut es wäre, wenn Ihre Ärztin sich einmal ausreichend Zeit nähme und Sie außerdem ausreden ließe. Oder dass Sie nicht stundenlang warten müssten, obwohl Sie einen Termin haben. Die Frage, ob wir ernst genommen werden, stellt sich unweigerlich, sobald wir in Kontakt mit einem anderen Menschen treten. Für die meisten von uns geht das schon morgens los. Sie bekommen beim Aufwachen von Ihrem Partner ein liebevolles Lächeln geschenkt, während er verspricht, gleich mit einem heißen Espresso zurück zu sein. Wahnsinn – und das am frühen Morgen, denken Sie, als Ihnen das köstliche Aroma des Kaffees in die Nase steigt und das Koffein beginnt, die Müdigkeit zu vertreiben. Vergessen sind in diesem Moment die vielen Male, in denen derselbe Partner wortlos aus dem Bett klettert und sich, ohne Sie eines Blickes zu würdigen, ins Bad verzieht.
In den alltäglichen zwischenmenschlichen Begegnungen spüren wir es alle: Zuwendung hebt unsere Stimmung. Nicht wahrgenommen oder bewusst ignoriert zu werden, macht dagegen schlechtgelaunt oder traurig. Dieses grundsätzliche Gefühl ist beim Besuch in der Arztpraxis oder im Krankenhaus nicht einfach verschwunden, doch ist das Gespräch zwischen Patient und Arzt keine alltägliche Begegnung. Die Partner erscheinen von Beginn an ungleich und in einer einseitigen Abhängigkeit. Sie gehen zum Arzt, um etwas zu erhalten, was Ihnen hoffentlich hilft und dieser hoffentlich geben kann. Er verfügt über das Wissen und die Fertigkeiten, aufgrund derer er eine Idee für die Ursache und die Beseitigung Ihrer Beschwerden entwickelt. „Ja, es ist genauso, als wenn ich mein Auto zum Kfz-Mechaniker bringe, weil irgendetwas mit der Kupplung nicht stimmt, damit er es wieder repariert“, würde Michael jetzt beipflichten. „Von technischen Dingen habe ich wenig Ahnung, der Autoschlosser kennt sich damit aber sehr gut aus, weil er den ganzen Tag Autos repariert, also ist er der richtige Mann für diesen Job.“
Haben Sie mal gesehen, wie dieser „Kfz-Doktor“ zu seiner Diagnose kommt? Der Experte, er wird inzwischen auch Kfz-Mechatroniker genannt, verbindet das Auto einfach über eine sogenannte OBD-Schnittstelle mit einem Computer, wobei OBD für On-Board-Diagnose steht, und bekommt so die relevante Fehlermeldung, die ernsthaft Fahrzeugdiagnose heißt, angezeigt. Sie ahnen schon: Michaels Vergleich zwischen Arzt und Kfz-Mechaniker hinkt. Unser Körper ist kein Ding, so wie ein Auto. Er verfügt weder über eine Computerschnittstelle zum Auslesen aktueller Fehlfunktionen noch sind die Körper von zwei Leuten wirklich völlig gleich. Und auch auf die Gefahr hin, dass mir Auto-Enthusiasten widersprechen, bin ich überzeugt, dass millionenfach produzierte identische Fahrzeuge weder eine Seele noch ein Bewusstsein haben. Ein Umstand, der die Körperwahrnehmung und damit die Ausprägung der Beschwerden bei uns Menschen hingegen maßgeblich beeinflusst.
Da Ihrer Ärztin naturgemäß keine vergleichbaren technischen Hilfen zur Verfügung stehen wie einem Kfz-Mechatroniker, ist sie umso mehr auf Ihre Mitarbeit angewiesen. Sie wird nur dann erfolgreich sein und die Beschwerden lindern oder beheben können, wenn sie sich auf Sie einlässt, offen, aufmerksam und ermutigend ist, und es ihr so gelingt, Ihre Mitwirkung am Heilungsprozess zu fördern. Sie wünscht sich Ihre Mitarbeit. Dieser Gedanke würde dem Chef der Autowerkstatt eher nicht kommen. Je besser Ihre Ärztin es versteht, Ihnen dieses Angebot zu unterbreiten, desto mehr werden Sie wahrscheinlich gewillt sein beizusteuern. Aus meiner Sicht ist es gut, ja notwendig, dass Sie sich auf diese Zusammenarbeit einlassen. Allein bekommt Ihre Ärztin das in der Regel nicht hin. Deshalb braucht sie auch eine gute Selbstbeobachtung auf Ihrer Seite. Damit meine ich nicht, sich ständig zu analysieren und verängstigt hinter jedem Pickel eine beginnende Katastrophe zu vermuten. Gemeint ist damit, Veränderungen, die sich im Inneren oder äußerlich sichtbar abspielen, auch wahrzunehmen.
In der nicht alltäglichen Begegnung zwischen Patient und Arzt bedeutet Ernstnehmen für mich als Fachmann, Sie nicht auf aktuelle Beschwerden oder eine Krankheit zu reduzieren. Sie geben mir ja einen Vertrauensvorschuss. Wohl weil ich Medizin studiert und, hoffentlich, ausreichend Fachwissen und Erfahrung habe, um die Ursache Ihres aktuellen Problems zu erkennen und eine Lösung zu finden. Inmitten modernster Formen der Bildgebung, schnellerer Laboranalysen und immer gezielter fahndender genetischer Tests bleibt die Erfahrung das zentrale Element. Nicht alles ist schwarz oder weiß im medizinischen Alltag, es gibt viele Grautöne. Durch dieses Grau gelangt man sicherer mit ein bisschen Erfahrung, so wie man die Piste im Skiurlaub beim zweiten oder dritten Mal schon besser herunterkommt. An einem strahlenden Wintermorgen gleiten Sie fast wie von selbst bis ins Tal. Ist die Bahn am nächsten Tag vereist oder voller Nebelschwaden, wird es schwieriger und Sie sind froh, dass Sie die Hügel und Kurven schon kennen.
Patienten suchen Ärzte oft wegen ähnlicher Symptome auf, aber mal haben sie Vorerkrankungen und mal nicht, mal nehmen sie Tabletten und mal nicht. Sie sind alle verschieden und sie sind alle einzigartig. Ich muss bereit sein, mich jedes Mal neu einzustellen und ganz von vorne anzufangen. Da leitet die Erfahrung meine Handlungen. Denn was ich schon einmal gehört, gesehen, getastet habe, das kann ich wiedererkennen und mich an die Schritte erinnern, die zum Erfolg geführt haben. Ganz grundsätzlich erwarten Sie von mir medizinische Kompetenz und gute Diagnosefähigkeiten. Das schließt auch ein, dass ich weiß, wann meine Grenzen erreicht sind und ich Sie lieber weiter überweise, am besten gezielt in einem gut abgestimmten Netzwerk von Kolleginnen und Kollegen.
Ich mag das Schild „Bitte nicht stören“ an meiner Sprechzimmertür. Eine zusätzliche Hürde, damit andere Patienten, Pfleger oder, besonders gern, Kollegen nach kurzem Klopfen nicht plötzlich mitten in Ihrer Intimsphäre landen. Neben nicht durchgestellten Anrufen und einem datenschutztauglichen Empfangsbereich gelingt es so, das von Ihnen exklusiv gewährte Recht zu wahren, welches mir Einblicke in Ihr körperliches und seelisches Innenleben erlaubt. Auch wenn Sie ohne dieses Zugeständnis im ärztlichen Sprechzimmer nicht auskommen werden, so ist es für mich dennoch ein Privileg. Das weiß ich. Und damit sollte ich besser verantwortlich umgehen. Sie als ganzheitliche Persönlichkeit wahrzunehmen erscheint mir da ein guter erster Schritt.
Sie nicht auf Symptome zu reduzieren erfordert von meiner Seite erst einmal, Sie ein wenig kennenzulernen. Dabei sind Sie mir mit der schon beschriebenen Vorbereitung auf den Besuch im Sprechzimmer eine große Hilfe. Da wir so leichter ins Gespräch kommen, brauche ich mich nicht nur auf meine Beobachtungen zu verlassen. Letztlich muss ich, ob durch Fragen oder Blicke, nicht nur das eigentliche Problem erfassen, sondern versuchen herauszufinden und zu verstehen, wie sehr Sie sich von den Beschwerden oder der Erkrankung eingeschränkt und betroffen fühlen und welche Ressourcen Sie zur Verfügung haben, um mit der neuen Situation umzugehen. Das ist für den Heilungsprozess wichtig.
Letztes Jahr im Sommer versuchte ich unserem Rasensprenger auszuweichen, weil ich trotz der Hitze nun mal nicht nass werden wollte. Mein Spurtversuch endete damit, dass ich auf der Nase lag und mir dabei irgendwie das Knie verdreht habe. Die Dusche war dann natürlich inklusive. Nichts Schlimmes dachte ich, aber beim Gehen hatte ich Schmerzen, und sie hörten nicht auf. Nach einiger Überwindung bin ich dann doch zum Arzt gehumpelt – das tue ich nämlich selbst auch nicht gern – und habe das Knie untersuchen lassen. „Das vordere Kreuzband ist gezerrt, nichts Schlimmes“, bekam ich zu hören. Hätte der Kollege mich besser gekannt oder sich die Zeit für ein kleines Gespräch über den Kniebefund hinaus genommen, hätte er erfahren, dass ich Marathonläufer bin und daher die notwendige Ruhigstellung des betroffenen Beines für mich ziemlich einschneidend war. Die verordnete Orthese auch zu tragen und mich in Geduld zu üben, ist mir wirklich schwergefallen. Mit dem Wissen über meine Freude am Sport hätte er mir noch mal ins Gewissen reden und meine Mitarbeit fördern können. Nach wenigen Wochen war zwar alles vergessen und ich konnte wieder rennen gehen. Es handelte sich ja auch nur um eine kleine Verletzung, die wieder vollständig in Ordnung kommen würde. Das war mir klar. Doch aufmerksam wahrgenommen fühlte ich mich von dem Sportarzt СКАЧАТЬ