Beichte in der Nacht. Friedrich Glauser
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Название: Beichte in der Nacht

Автор: Friedrich Glauser

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783857919350

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СКАЧАТЬ hatte eine zweite Ablage errichtet, Waiblikon hatte einen Eheberater, der zugleich Nervenarzt war, und als letzte Errungenschaft hatte Fräulein Elisabeth Varnhagen eine Tanzschule eröffnet. Sie ließ dicke Damen exerzieren, um ihnen eine verlorene Schlankheit wiederzugeben, sie gab Kurse im Kaufmännischen Verein und im Arbeiterturnverein … Sie war politisch neutral und darum wohlgelitten. Zu Fräulein Varnhagen kam nun eines Tages Johann Kehrli, der Dichter, und brachte das Festspiel. Ob man das nicht tanzen könne?, fragte er und übergab sein Manuskript. Elisabeth war um einen Kopf größer als Johann, sie war sehr schlank, hatte schlichte blonde Haare, die ein wenig in die Stirn fielen, und einen gut trainierten Körper. Sie las die Verse, fand sie schlecht, aber sagte es nicht. Wozu Menschen unnötig kränken? Ihr Großvater war ein großer Diplomat gewesen, und diplomatische Eigenschaften scheinen die Tendenz zu haben, die Erbmasse zu verändern …

      «Kommt noch Musik dazu?», fragte Fräulein Varnhagen.

      «Sowieso! Der Gygli macht die Musik.»

      Gygli? In manchen Kreisen ist Gygli bekannter als Lehar. Gygli hat in seinem langen Leben die Musik zu einem halben Hundert Festspielen geschrieben. Er ist ein alter, ruhiger Herr mit einem weißen Fischerbart und langen, weißen Haaren, die im Nacken einen Wulst bilden …

      Gygli saß am Klavier und spielte die Melodie der «Industrie», er sang die Worte mit einer krächzenden Greisenstimme, aber mit viel Rhythmus. In einer Ecke des Raumes stand Fräulein Varnhagen und sagte von Zeit zu Zeit: «Tam … tatatam … tam!» Sie trug einen blauen Trainingsanzug, und ihre Arme waren nackt. In der Mitte des Raumes standen zehn Burschen in einer Reihe, sie schwitzten und waren verlegen, aber sie gingen gehorsam vor und zurück, während Fräulein Varnhagen sagte: «Und eins … und zwei … Tam … tatatam …»

      «Und dröhnend steht sie da, die Industrie …», sang Herr Gygli und schloss mit einem zweihändig-donnernden C-Dur-Akkord.

      «So, Fräulein Unger», sagte er zu einem kleinen Mädchen, das neben ihm stand und in das Notenmanuskript gestarrt hatte, «haben Sie verstanden? Ich kann da nicht immer nach Waiblikon kommen. Sie müssen eben selber luegen, wie Sie zurechtkommen. Ich weiß, Sie spielen lieber die Appassionata, aber schließlich …» Achselzucken … «die Gygli sind geradeso selten wie die Beethoven … »

      Fräulein Unger nickte schüchtern. Sie hatte bläulich-schwarze Haare und ein komisches Eskimogesicht. Sie war eine Schülerin Elisabeth Varnhagens … Am offenen Fenster, durch das der Lärm der Straße, das Getschilp der Spatzen und der feuchte Geruch von Wasser, das auf Asphalt verdunstet, drang, stand Johann Kehrli und wunderte sich, dass seine Verse so viele Leute in Bewegung setzten. Vorerst den Gerzensteiner Arbeiterturnverein (Gerzenstein war ein Vorort von Waiblikon), den Musikanten Gygli, das Fräulein Unger, und dann war da noch Elisabeth Varnhagen, aber an die wollte er nicht denken, und darum zündete er sich eine Zigarette an. Es war heiß im Raum, draußen war Juni, in drei Wochen sollte das Musikfest sein …

      Das Komitee war unzufrieden. Es bestand, außer dem schon genannten Wachtmeister Brügger, aus einem Versicherungsagenten, einem Bierreisenden, einem Sekundarlehrer und dem Hilfsredaktor des Landboten. Der Versicherungsagent hatte seine Tätigkeit im Komitee damit begonnen, alle Teilnehmer des Festspieles für die Dauer der Proben und der Aufführungen zu versichern. Er zog dafür Provision aus der Kasse, der mittelgroße, mittelschwere Mann, dessen Gesichtshaut immer rot war. Nun, das war einmal so, es war dagegen nicht viel einzuwenden, denn der Bierreisende zog auch Provision, vom Festwirt, dem er das Bier lieferte und den er finanzierte, und von der Brauerei, an der er angestellt war. Der Sekundarlehrer durfte für die Korrespondenz, die er zu führen hatte, Spesenrechnung stellen, und der Hilfsredaktor am Landboten hoffte auf neue Beziehungen … Es waren also andere Gründe, die die Unzufriedenheit des Komitees bedingten:

      Die Leute, die das Festspiel verwirklichen sollten, wurden frech. Hatte man so etwas schon erlebt? Der Versicherungsbeamte, der über das Ressort der Lustbarkeiten herrschte, war einmal in eine Probe gekommen. Es war sein gutes Recht, er musste sich vergewissern, dass alles seinen wohlgeordneten Gang ging. Und er war hinausgeworfen worden! Sehr höflich, aber sehr bestimmt! Und zwar von Fräulein Varnhagen. Nun hatte der Versicherungsagent versucht, Widerstand zu leisten (was war das schon, so eine kleine Tanzlehrerin, die war ja froh, dass sie dreihundert Franken verdienen durfte!), aber merkwürdigerweise wurde das Tanzfräulein von allen an der Probe Anwesenden unterstützt. Wer war alles anwesend? Bureaufräuleins aus dem Kaufmännischen Verein, eine Volksschullehrerin, ein Maschineningenieur (der tanzte den Merkur, den Gott des Handels, zu Worten wie: «Gott Merkur mit dem Handelsstab, du einigst die Völker landauf und landab»), die zehn Turner aus der «Industrie», einfache Arbeiter … Ja, alle diese Leute schienen fest zusammenzuhalten, sie schienen zu empfinden, dass sie eine große Gemeinschaft bildeten, und sie waren entschlossen, gegen äußere Störungen Front zu machen. Sie gaben ihre Zeit her, ohne Lohn zu verlangen, es war ihnen nicht beizukommen. Und das Traurigste an der ganzen Sache war, dass selbst der Dichter Johann Kehrli sich eine freche Röhre angemaßt hatte, er, der doch ein entfernter Verwandter des Komiteemitglieds Brügger war. Kopfschüttelnd entfernte sich der Versicherungsagent, um seinen Kollegen die Mitteilung zu machen, dass ein bedenklicher Geist unter dem Festspielpersonal herrsche …

      Die Komiteemitglieder waren keine schlechten Menschen. Sie waren nur ein wenig versteinert. Ihr Gemeinschaftsgefühl war befriedigt, wenn sie Fünfzig vom Trumpfkönig mit den Stöcken weisen konnten und der Partner das Nell hatte, so dass ein Match in Aussicht stand. Sie gaben ihre Zeit her für das Musikfest, an dem hundert Gesellschaften aus allen Teilen des Kantons aufmarschieren sollten, aber sie wollten etwas für ihre Zeit. Umsonst ist nur der Tod, sagten sie, und der kostet das Leben …

      Und da waren die Leute, die freiwillig und umsonst ihre Freizeit hergaben, um unter der Leitung irgendeines blonden und schlanken Fräuleins ein Festspiel auf die Beine zu stellen. Der Versicherungsagent mit der roten Gesichtshaut wollte seine Autorität wahren: Er kürzte den Kredit für die Kostüme. Es nützte ihm nichts. Die kleine Gesellschaft war nicht zu bodigen. An den Sonntagen, an den Abenden, an denen es keine Proben gab, hockten die Mädchen zusammen im Zimmer der Tanzlehrerin und nähten Kostüme … Reste waren billig zu haben. Gott Merkur bekam ein kurzes Gewand aus gelbem Seidenstoff, und sein Schlangenstab wurde ihm vergoldet. Seine Sandalen waren aus weichem Leder, und an den Fersen waren zwei Flügel angenäht. Er schwebte über die Bühne, die in der Festhütte, draußen vor der Stadt, aufgestellt war.

      Komische kleine Gesellschaft! Die Lehrerin war klein und zart, sie tanzte in einem Bild eine Nymphe («Gewässer der Berge, Gewässer der See – Ihr strömet und rauschet vom ewigen Schnee …»), und der Maschineningenieur war ein Bachgott, ohne Bart, halb Apoll, halb Faun. Er hat die kleine Lehrerin später geheiratet … Aber das war ja nicht die Hauptsache; die Hauptsache war, dass die verschiedenen Menschen zusammenhielten, so stark zusammenhielten, dass sie eine Einheit bildeten. Es übte das Fräulein Unger mit dem Eskimogesicht Abende lang mit dem Turnverein Gerzenstein – und die groben Burschen waren zahm und folgsam … Es gab Reibereien und Klatschereien, der Versicherungsagent erfuhr davon, er hoffte, er hoffte von Herzen, nun werde man sich an ihn wenden, damit er schlichte … Er hatte im Sinn, die Sache dann in einer Komiteesitzung zu behandeln … Niemand kam. Die Wellen legten sich. Einzig Johann Kehrli, der Dichter, hatte sich verändert: Er trug keine Galoschen mehr, dafür hatte er sich Hemden mit weichen Kragen angeschafft, und seine Krawatte schlang sich nicht mehr um einen Flügelapparat aus Zelluloid …

      Gemeinschaft! Ein großes Wort. Es wird so viel darüber geschrieben. Und doch ist es so einfach … Eine Arbeit, die freiwillig getan wird und an der man Spaß hat, was braucht es mehr? Es steigt die Kindheit auf aus dem verschütteten Brunnen, die Arbeit wird wieder Spiel, Belohnung wartet keine, man tanzt herum und verkleidet sich, ist Nymphe, Gott oder stilisierter Arbeiter, und alles ist genauso ernst wie ein Kinderspiel … Um die Festhütte stehen hohe Platanen, ihre Blätter sind dunkel, wie sie es nur ein paar Tage sind, im hohen, schweren Sommer. Und die Nächte sind hell, auch wenn der Mond nicht scheint, denn dann glänzen СКАЧАТЬ