Der Zweifel tritt natürlich schon vor dem 35. Lebensjahr auf, auch der Mut kann bei bestimmten Menschen wie durch die Geburt hindurch in das Leben hineingetragen werden. Doch geht es hier nicht so sehr um die grundsätzlichen Seelenkräfte, die überindividuell sind, sondern um das dann individuelle Ausbilden, Handhaben und schließlich Beherrschen dieser Seelenkräfte vom Ich aus. Ist zum Beispiel die volle, persönliche Kraft des Zweifels ausgebildet und wird in unveränderter Form über das 42. Lebensjahr hinausgetragen, ohne dass sie nun durchstrahlt, durchwärmt und damit metamorphosiert wird von der Kraft des Muts, wird mehr und mehr die Gefahr entstehen, dass das ganze menschliche Sein erfasst und beherrscht wird von dem Zweifel und damit eine Verwandlung desselben hin zur Verzweiflung geschieht. Und damit sind wir bei dem kardinalen Punkt einer modernen Problematik des Alters: der zunehmend beherrschenden Kraft der Verzweiflung im 5. Lebensjahrzehnt. In der heutigen Sprachform wird diese existenzielle Verzweiflung auch Frustration genannt. Der Mensch kann nur noch sich selbst in Zweifel ziehen, wenn er nach diesem notwendigen Schritt der zeitgemäßen Entwicklung zum Selbst, zum Ego, nicht die innere Wende findet zu allem, was außer ihm existiert, ohne das er selber gar nicht der sein könnte, der er geworden ist.
zukunftsbestimmender Lebensabschnitt
Wir werden in späteren Kapiteln diese zentrale Frage des rechten Übergangs in das, was wir hier bereits Alter nennen – also diesen Zeitabschnitt jenseits des 42. Lebensjahres –, noch ausführlicher darzustellen haben (siehe Seite 207 ff.). Hier sei zunächst einmal der Blick darauf geworfen, wie dieser nun mehrfach für die moderne Entwicklung als ganz grundlegender Wendepunkt bezeichnete Lebensabschnitt die Zukunft des Menschen bestimmt, im Hinblick auf die folgenden Lebenszeiten bis zum Tod, aber – wie wir noch sehen werden – auch über diesen hinaus.
Von der Ich- zur Wir-Erfahrung
Zusammenhang mit geistigen Gesetzmäßigkeiten der Planeten
Es wurde ja schon dargestellt, dass das menschliche Ich in seiner Arbeit am Leib, an der Seele und schließlich in der eigenen geistigen Ausgestaltung gestützt wird durch Kräfte, die mit den geistigen Gesetzmäßigkeiten der Planeten oder Wandelsterne im Zusammenhang stehen (siehe Seite 54 f.). Rudolf Steiner beschreibt in seiner Geheimwissenschaft im Umriss, dass sich mit diesen Gestirnen ganz bestimmte schaffende, schöpferische Geistkräfte verbinden und sie also mehr sind als nur dieser materielle Aspekt, den zum Beispiel eine moderne Raumfahrtforschung von ihnen hat. Keine technisch noch so raffinierte Sonde, die uns in Fotografien äußere Ansichten der Venus oder des Mars sendet, die vielleicht etwas von der Chemie und Physik dieser Planeten erforscht, kann etwas von dem Schöpfungsgehalt, der geistigen Realität, erzählen.
Schaffensdrang und Zerstörungskraft
Schaut man nun auf die in den Mythologien charakterisierten besonderen Kräfte des Mars, so findet man in ihm die Polarität von Schaffensdrang und Zerstörungskraft. Menschenkundlich gesehen, konzentrieren sich diese Marskräfte organisch ganz besonders in der Gallebildung und -ausscheidung, in dem ganzen Chemismus unserer Leber, der Stoffbildung und -entbildung im engeren Sinne dessen, was mit einem exakten Begriff Stoffwechsel genannt wird. In das Seelische hinein spiegeln sich diese Kräfte im Menschen in seiner Sprache und dem diese vermittelnden Organ Kehlkopf. Der stoffliche Repräsentant der Marskräfte in der Erde ist das Eisen, das wiederum in der Form des Schwertes ein sowohl kriegerisch-zerstörendes, aber auch ritterlich-hehres und schützendes Symbol aller Zeiten war.
Aufbau und Abbau
Es gehört zu den merkwürdigen inneren Bedingungen des Stoffwechsels, dass Aufbau und Abbau, Bilden und Entbilden, Schaffen und Zerstören unabdingbar miteinander verbunden sind. Ohne diese Voraussetzungen würde ein menschlicher Organismus nie in dieser Beweglichkeit und Kraft über so viele Jahrzehnte existieren können.
Polarität der Möglichkeiten
Marskräfte bedeuten aber auch Entscheidungsmut, Zielgerichtetheit. So ist dieser Lebensabschnitt vom 42. bis 49. Lebensjahr in der Polarität der Möglichkeiten auch als paradox zu erleben. In vielen Menschen bricht so etwas wie eine ganz neue Möglichkeit, ein unendlicher Schaffensdrang, das Erfassen ganz neuer Ziele auf, andere geraten in den Niedergang selbstzerstörerischer Verzweiflungen und Frustrationen. Die ganze interessante Frage der Aussteiger findet hier ihre Antwort. Dabei kann diesem Problem die positive Erkenntnis zugrunde liegen, mit den bisher gewonnenen Kräften nun eine ganz neue Zielsetzung zu verfolgen, die eine zentrale Erfahrung in diesen Lebensabschnitt trägt.
Das ist der Übergang von der Ich-Erfahrung zur Wir-Erfahrung. Nicht meine Bedürfnisse, die das bisherige Leben oft ganz beherrschten, sondern die Bedürfnisse anderer oder der Welt, der Erde, der Natur werden zum persönlichen Anliegen. Nicht mehr »Was kann ich für mich tun«, sondern »Was kann ich für andere oder die Welt tun« wird zum richtungsweisenden Thema. Diese Wendung vom Egoismus zum Altruismus entspricht in starkem Maße der Marszeit des Lebens.
Vielleicht entdeckt der Leser hier eine ganz neue Bedeutung des Wortes »Alter«. Im Lateinischen bedeutet alter »der andere«. Kommt daher der Ursprung unseres Begriffs »Alter«, weil es die Zeit im Leben benennt, wo der / die / das andere bedeutsamer wird als man selbst?
Verantwortung übernehmen
Im Negativen kann es aber auch ein Sich-noch-mehr-von-der-Welt- und damit dann auch ein Von-sich-selbst-Abwenden sein, das keine Ziele mehr in sich trägt außer zu existieren, natürlich in möglichst großer Bequemlichkeit, was dann oft zielgerichtet Niedergang oder Krankheit bedeutet. Auch davon wird später noch zu sprechen sein. Jeder Mensch sollte im sozialen Bereich des Miteinanderlebens in dieser Zeit Verantwortung übernehmen können, was erkennen lässt, dass in einer modernen Gesellschaft alte »monolithische« Strukturen völlig fehl am Platz sind und immer mehr durch gemeinschaftliche Strukturen, zum Beispiel wechselnde Führung, abgelöst werden müssten.
Einzelseele und Gemeinschaft
Die heutige soziale Frage ist im Grunde ein Spiegel dieser Frage eines Lebensabschnittes, die jedem Menschen ganz persönlich gestellt wird. Oder: Die soziale Frage spiegelt eigentlich eine zentrale persönliche Frage, und die Lösung der einen wie der anderen kann nur gemeinsam angestrebt werden. Von Rudolf Steiner stammt folgende Formulierung, die ein Meditationsinhalt sein kann und auch als Motto der Sozialethik bezeichnet wurde: »Heilsam ist nur, wenn im Spiegel der Menschenseele sich bildet die ganze Gemeinschaft und in der Gemeinschaft lebet der Einzelseele Kraft.«35
Die Seele des einzelnen, auf sich gestellten Menschen muss eine ganz persönliche Kraft entwickelt haben, die sie für eine Gemeinschaft einbringen kann. Dieses ganz Individuelle muss dort Platz haben können. Es muss sich jedoch ebenso stark in jedem Einzelnen das Bewusstsein bilden, was eine Gemeinschaft braucht und was er davon »selbstlos« in sie einbringen kann. Aus dieser gelebten Wechselwirkung könnte das moderne Gesellschaftsleben viel gewinnen und daran gesunden.
So sehen wir also, dass für das Thema dieses Buches, ja, im Weiteren für die menschliche Entwicklung überhaupt dieser Lebensabschnitt, den wir die Marszeit des Menschen genannt haben, von ausschlaggebender Bedeutung ist. In den späteren Kapiteln über eine sinnvolle Art des Alterns und die in dieser Zeit auftretenden typischen Krankheiten werden wir auf viele der jetzt angeschnittenen Fragen zurückkommen.